Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
dass es nicht so ist, wie’s aussieht. «
»Hoffen? Auch wir hoffen«, sagte Circendil. »Obwohl es wenig bewirken mag. Leider wissen wir nicht mehr als Ihr, Herr Wirt. Wie weit ist es bis zu diesem Grenzstein?«
»Keine zehn Minuten von hier, immer die Mittelstraße hinunter«, antwortete Timan. Ihr könntet die Mühlenflügel von dort aus sehen.«
»Ich weiß, wo das ist«, sagte Mellow.
»Ich auch«, echote Bholobhorg. Es klang trotzig und war auch so gemeint.
Tatsächlich war Vierstraß, nach Süden geblickt, die letzte Siedlung des Obergaus und bildete damit das Ende von Mellows früherem Dienstbezirk. Die Grenze zum Mittelgau verlief unmittelbar hinter den Dorffeldern und folgte auf vielen Meilen der Gaustraße, die nach Westen hin zwischen dem Kretelberg und dem Rasteberg entschwand, während sie in östlicher Richtung ab Vierstraß parallel zur Grenze des Tiefengaus verlief. Vierstraß lag sozusagen an einem Drei-Gauen-Eck, gebildet vom Obergau im Norden, dem Mittelgau im Südwesten und dem Tiefengau im Südosten. Der Rasteberg mit seiner Mühle war die letzte (oder erste) Erhebung der Kretelheide und lag ziemlich genau auf der Schneide, zählte aber noch mit zum Obergau. Ein oder zwei Mal im Jahr die Grenzen abzugehen gehörte zu den Pflichten der Landhüter; also wussten selbstverständlich beide , wo sich die Gemarksteine befanden.
»Dann werden wir den Ort bei Tageslicht in Augenschein nehmen. Doch für diesen Augenblick führt uns in Eure Scheune, Herr Wirt. Und versorgt bitte unsere Ponys. Sie sind heute über fünfzig Meilen gelaufen, und es soll ihnen an nichts mangeln.«
»Und beschafft mir ein wenig Fressen und etwas Wasser für meinen kleinen Freund hier.« Finn setzte Inku behutsam auf die Erde. Die beiden Hunde begannen, einander neugierig zu beschnuppern.
»Na, wen haben wir denn da?« Timan kratzte sich verblüfft hinter dem Ohr. »Wenn das mal nicht Bhremo Kannins Hund ist! Keine Angst, die beiden kennen sich. Galad ist der Vater des Welpen. Weswegen habt ihr den Kleinen bei euch?«
»Weswegen?«, fragte Circendil. »Weil er der einzige Überlebende eines heimtückischen Überfalls ist. Ihr müsst Euch leider sagen lassen: Der Krieg, den Ihr so gern aus Euren Dorf herauszuhalten wünscht … der hat inzwischen längst Räuschelfurt ereilt.Der Feind ist mitten unter uns. Er schlägt zu, wo und wann es ihm passt. Ohne Euch um Erlaubnis zu fragen. Da mag Euch kommen, wer da will, sagtet Ihr so nicht vorhin? Oh, ich verspreche Euch: Ihr werdet es nicht mögen, wenn er kommt. Und lasst Euch ferner sagen: Er fürchtet Euren Hammer nicht. Keine sechs Meilen von hier ist vor einem Tag Bhremo Kannin erschlagen worden, und weitere Vahits mit ihm. Wir hofften, die Dörfler wären vielleicht hierher geflüchtet!«
»Geflüchtet? Wieso …?«
»Also nein«, unterbrach ihn der Mönch. »So sind sie entweder glücklich in die Heide entkommen – oder sie sind dort aufgespürt worden; in diesem Fall wird ihr Leben verloren sein.«
»Du denkst an die fortgeflogenen Gidrogs?« Mellow sah Circendil sorgenvoll an.
Der Davenmönch schüttelte den Kopf. »Nicht fortgeflogen. Sondern zur Jagd aufgebrochen. Daran denke ich, ja. Nein, ich befürchte es.«
»Wovon sprecht Ihr da?«, stammelte der Wirt. »Fortgeflogen? Gidrogs? Und wer hat Bhremo erschlagen, du liebe Güte?«
Circendil deutete zu den Fenstern hinauf. »Jene, die Eure einundzwanzig Schlafmützen das Fürchten lehren werden. Bei Aman! Es ist Krieg, versteht Ihr? Meint Ihr vielleicht, der Rat treibt Scherze? Und Herr Wredian hat nichts Besseres zu tun, als sinnlos Boten über Land zu schicken? Die Zeiten für lauschige Abende am Kamin sind vorbei! Geht und rüttelt die fünf oder sechs am wenigsten Trunkenen wach! Beeilt Euch! Sie sollen Fackeln nehmen und bis zum Morgengrauen aufmerksam wachen. An den Dorfeingängen oder wenigstens an der Kreuzung. Und sie sollen Lärm schlagen, sobald sie etwas Ungewöhnliches bemerken. Und schärft ihnen ein: Der Feind kann von überall her kommen. Er kann sich von den Straßen nähern. Oder über die Felder. Wahrscheinlicher noch wird er sich auf dunklen Flügeln aus den Wolken herabstürzen. Es sind Vogelreiter unterwegs, Herr Wirt, mit Schwertern und scharfen Schnäbeln und Klauen!Heldestaten, ja? Die Zeit dafür ist gekommen! Und hofft mit mir, es möge noch nicht zu spät für sie sein.«
Damit drehte er sich um, ergriff Gwaeth beim Zügel und betrat den Hof des Gasthauses. Vor dem Stall
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