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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos María Domínguez
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aus, der nach unten zeigte. All das verlieh Holz und Eisen seinen eigentümlichen Charakter, und manchmal hatte ich das Gefühl, eine Zeit entführt zu haben, die ich in anderer Form niemals kennenlernen würde, ein Quäntchen Fortdauer, das Wind und Wetter trotzte.
    Nicht sehr originell, wie Du siehst. In jedem Winkel der Wohnung hörte ich das Schweigen des Kreuzes, wie einen Sekundenzeiger. Mal verlangte es danach, zurückgebracht zu werden, mal vergaß ich es ein paar Tage lang, bis ein Bremsenquietschen auf der Straße oder das Licht, das in Tiefrosa vom Meer heraufkam, es wieder ins Bewusstsein holte. Dann tauschten wir Blicke oder Scherze. Und doch war da noch etwas anderes. Notgedrungen hing es an der Wand und versetzte das Saéz-Porträt in Schwingungen, erschlug die Kunstdrucke und trieb meineGedanken in die verschiedensten Richtungen. Was rechtfertigte mich? Wie viele Jahre blieben mir mit Nina, bevor mich die Worte und Erektionen verließen und die Arzneien und das Misstrauen an ihre Stelle traten? Jetzt kommt mir das alles großmäulig vor, wie ein wahnhafter Monolog, aber im Grunde war es ein Spiel: ich bin dein Ankläger – aber ich dein Besitzer. Doch langsam gewöhnte ich mich daran, es über dem Kamin zu sehen, und nach ein paar Monaten fügte es sich in den Rest der Wohnung ein, wurde zu einem Muster an der Wand. Bestimmt ist Dir das auch schon passiert. Du hängst ein Bild auf, es sieht großartig aus, und nach einiger Zeit nimmst du es nicht mehr wahr. Der Blick ist gefräßig. Du glaubst, es vergessen zu haben, doch dann, ganz unwillkürlich, kehrt es auf einmal zurück.
    Vor fünf Tagen also, während ich auf Nina wartete, die mit ihrer Mutter zu Abend aß, blickte ich auf, und als fiele mir ein Schleier von den Augen, wurde mir klar, dass ich das Andenken an einen Menschen gestohlen hatte, um eine Wand zu dekorieren. Ich starrte es an, konnte es nicht fassen. Ich hatte keinen Auftrag erfüllt, kein Vaterunser gebetet. Ich begreife es einfach nicht, und was ich davon verstehe, gefällt mir nicht. Ein Kannibale hatte bessere Gründe. Nicht einen Augenblick war mir bewusst geworden, dass ich einem Menschen das Einzige genommen hatte, was auf Erden an ihn erinnerte. Ich hatte ihm nicht nur das Kreuz gestohlen, ich hatte ihm auchden Namen genommen, und jetzt packt mich ein Schwindelgefühl, Verónica, denn hinter dem Sakrileg stand der Name Gabino, aber der Name Gabino steht für nichts. Für nichts und wieder nichts. Wollte ich mich über mich selbst lustig machen? Wollte ich wissen, ob ich einfach so weitermachen konnte? Ich Schwachkopf, es war nicht das Kreuz. Es war das Schild. Am meisten quält mich nun, dass ich es wie ein Stück Dreck abgerissen hatte, weil es die Harmonie des Ganzen störte. Ohne Reue, ohne Hass, als wäre es mein gutes Recht, als hätte ich Anspruch darauf: Hereinspaziert und zugegriffen, bedienen Sie sich, nur Ihr Wunsch zählt. Befriedigen Sie ihn. Stillen Sie ihn. Sie nehmen nichts mit? Mehr haben Sie nicht? Mehr können Sie nicht nehmen? Bevor der Hahn kräht, werden Sie mehr wollen und wieder mehr. Niemand macht es Ihnen zum Vorwurf, wenn Sie Ihre Wünsche erfüllen. Was denn, das ist alles? Mehr gibt es nicht, mein Freund.
    Ich schwöre Dir, ich sehe es da neben dem Kamin hängen und kann mich selbst nicht ausstehen.«
    Es gibt Leute, die überfahren einen Radfahrer und halten nicht an, manche suchen sich sogar ein Opfer und verschlingen es gierig. Was für ein Bild hatte sich Waldemar von den Menschen gemacht? Einige Tage lang dachte ich, dass er eine allzu hohe Meinung von sich selbst gehabt hatte. Dann hielt ich ihn für naiv. Der Mensch löscht fortwährend seine eigene Vergangenheit aus. Hatte er im Markusdom nicht denGlanz der Sünden gesehen? Hatte er nicht gesehen, wie Kinos, Gedanken, Sprachen zerstört wurden, damit andere an ihre Stelle traten? Ungeduldig wartete ich auf das nächste Mailpaket. Die letzte Nachricht ihrer Lieferung hatte abrupt geendet, ohne Abschied. Ich musste wissen, was er danach getan hatte, doch Verónica ließ sich Zeit, und ich war so ungeschickt, sie zu drängen.
    Ich solle mich gedulden, antwortete sie in einem trockenen Ton, der mich beunruhigte, und in der nächsten Woche beschimpfte sie mich als hinterhältigen Kerl, verfluchte mich bis in alle Ewigkeit und schickte keine Mails mehr. Ich fügte mich in ihren Hass wie vorher in die Idee, sie zu belügen, denn da war nichts wiedergutzumachen. In einem hatte Waldemar recht

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