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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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widmete sich dem nächsten Gemälde und fand in dem Mosaik kleiner Porträts ein gelbes und ein grünes Feld, ebenso angeordnet wie die ersten zwei. Auf der dritten Wand gab es ein rotes und ein schwarzes Viereck. »Wenn man die beiden Punkte jeweils mit einer Linie verbindet, zeigt sie in die untere rechte Ecke der Wand.« Dort befand sich in allen Fällen ein braunes Quadrat, das zu einem anderen Farbmuster an der Unterkante der farbenfrohen Wände gehörte.
    Die vierte Wand wies keine Markierungen auf. »Was haben Sie vorhin gesagt?« wandte der Amerikaner sich an Lokesh. »Wir dürfen uns nicht vom äußeren Schein täuschen lassen. Und das, was wir suchen, ist immer schon direkt vor unserer Nase.« Corbett kniete sich hin und stieß gleich darauf einen kleinen Freudenschrei aus. »Die anderen Wände sollten uns mitteilen, daß wir die entsprechende Ecke der vierten Wand beachten müssen«, sagte er. Das Quadrat dort war in Wirklichkeit ein Loch und nicht etwa eine schwarze Fläche, als die es im ersten Moment erschien. Ein dunkles Loch, getarnt durch das Farbmuster. »Man muß etwas hineinstecken. Einen Hebel.«
    Shan blickte zu dem Bettelmönchstab, der über dem Durchgang hing.
    Wenige Sekunden später schob Corbett ein Ende des langen Stabs in die Öffnung, drückte fest dagegen und zog nach oben. Nichts geschah.
    »Mir war so, als hätte ich etwas gehört«, sagte Yao. »Ein Klicken. Vielleicht wurde irgendein Mechanismus betätigt.« Er drückte gegen die Wand über dem Loch. Nichts. Corbett und Shan stemmten sich mit den Schultern dagegen. Yao schloß sich ihnen an. Immer noch nichts.
    »Vielleicht wieder eine falsche Spur«, sagte der Amerikaner. Er lehnte sich gegen die angrenzende Wand und keuchte erschrocken auf. Die Wand gab nach und schwang auf einem zentralen Drehzapfen nach hinten. Corbett kippte rücklings in die Dunkelheit.
    Shan leuchtete sofort hinein. Der Amerikaner lag auf einem hölzernen Treppenabsatz. Steile, etwa fünfzig Zentimeter breite Stufen führten nach oben.
    »Mann, waren die gut«, sagte Corbett, als er sich aufrappelte und seine Taschenlampe auf die Rückseite der Wand richtete. Es handelte sich um eine Konstruktion aus dickem Holz, das dermaßen eng aneinandergefügt und so geschickt bemalt worden war, daß es von der anderen Seite wie eine Felswand aussah.
    Sie stiegen in die dritte Ebene und gelangten in eine Kammer, die keinem der unteren Räume glich. Punji stöhnte bei diesem Anblick auf, doch Lokesh gab einen verzückten Laut von sich.
    An den Wänden reihten sich die Köpfe von Dämonen, allerdings diesmal keine Malereien, sondern dreidimensionale Häupter, die detaillierten Schreckensmasken der tibetischen Ritualtänze. Die Überlieferung besagte, daß die Dämonen von diesen Masken Besitz ergreifen konnten, sofern man die richtigen Worte sprach.
    Sie verharrten einen Moment in der Mitte des Raums. Die zuckenden Lichtstrahlen der Taschenlampen schienen den zornigen Fratzen Leben zu verleihen.
    Neben einem der beiden Zugänge der Kammer hing ein Holzrahmen mit einem Stück Papier. Shan leuchtete es an. Es war nicht tibetischen Ursprungs und gehörte auch nicht zu den Ritualgegenständen, sondern stellte eine Art Begrüßung dar.
    Als er den verstaubten Rahmen von der Wand nahm und an McDowell weiterreichte, hörte er, wie es ihr fast den Atem verschlug. »Der liebe Onkel Bertram.« Sie lächelte und las den englischen Text leise vor:
    Euer Hiersein grenzt fast an ein Wunder,
    denn die Pilger verzweifeln mitunter.
    Sie laufen wie irr
    durch das Gängegewirr
    und glauben, der Pfad sei ein runder.
    Der Ausgang der Maskenkammer führte auf einen gekrümmten Tunnel, der dem kreisförmigen Gang der untersten Ebene entsprach, wenngleich der Radius hier deutlich enger war. An der Außenwand des Korridors zweigten in regelmäßigen Abständen Kapellen ab, zwischen denen jeweils eine Meditationszellelag. Shan und die anderen beeilten sich und blieben nicht stehen, um die Gemälde der Kapellen zu betrachten. Die Innenwand des Tunnels war verputzt und ebenfalls herrlich bemalt, doch alle zehn Meter gab es eine schlichte Bohlentür, versehen mit einem eisernen Knauf. Über dem Türsturz war stets das Segment eines Regenbogens aufgemalt. Sie kamen an dem Bild einer Gottheit vorbei, die vor gelbem Hintergrund auf einem Leopardenthron saß. Es war das symbolische Südtor. Shan ging zu der gegenüberliegenden Tür und öffnete sie.
    Dahinter lag ein Wohnraum, die Unterkunft eines der

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