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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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was?«
    »Nein«, sagte Shan und wandte den Blick ab. »Ich will nicht, daß Sie wie ich enden.«
    Yao blieb sehr lange still. »Wenn wir beide, Sie und ich, uns damals in Peking kennengelernt hätten, wären wir gute Freunde geworden.«
    Shan deutete auf eine Sternschnuppe.
    »Ich verspreche Ihnen zwei Dinge«, sagte Yao entschlossen. »Ich werde mir Ming holen. Und ich werde Sie rehabilitieren. Auf diese Weise können Sie Ko retten. Gemeinsam werden wir es schaffen.«
    Danach sprachen sie kein Wort mehr, und Shan ließ die Unterredung noch einmal an sich vorüberziehen. Yao wollte ihn nach Peking mitnehmen, damit er dort von vorn anfing. Ihm fiel wieder ein, daß er sich ursprünglich in Klausur begeben sollte, weil er im Fieber gerufen hatte, er wolle nach Hause gehen. Aus irgendeinem Grund fragte er sich nun, wo wohl die Höhle lag, die Gendun für ihn ausgesucht hatte. Er sehnte sich nach einem Monat absoluter Stille, einer Zeitspanne, in der er allein sein und die ungewohnten Gefühle in den Griff bekommen konnte, die ihn seit dem Festtag heimgesucht hatten.
    Irgendwann fiel ihm auf, daß Yao gegangen war. Er suchte in seiner Tasche, fand eine Schachtel Streichhölzer und legte sie vor sich auf einen Felsen. Dann riß er ein Stück von dem Umschlag seines Flugtickets ab, denn er hatte kein anderes Papier bei sich, und nahm einen Bleistiftstummel. Vater , schrieb er im Mondlicht, ich bin aus Angst um meinen Sohn zitternd aufgewacht. Als ich selbst noch ein Sohn war, habe ich viel gelacht. Er musterte die Worte mit feuchten Augen und dachte an seine glückliche Kindheit zurück. Dann schrieb er weiter. Zeig mir eine Möglichkeit, daß sie nicht ihn nehmen, sondern mich. Er faltete das Papier zusammen, entzündete aus den Streichhölzern ein kleines Feuer und legte die Botschaft hinein. Sie verbrannte zu Asche und stieg zum Himmel empor. Dann roch er plötzlich Ingwer, und jemand setzte sich neben ihn. Aber als er es wagte, den Kopf zu wenden, war niemand da.

Kapitel Neunzehn
    Der letzte Tag begann mit einem Sturm, einem der seltenen Sommergewitter, die über den Himalaja bis nach Tibet vordrangen. Wind zerrte an Dolans Zelt, Regen löschte das Kochfeuer, bevor sie ein Frühstück zubereiten konnten, und Donner ließ die altersschwachen Mauerreste erzittern. Gendun war spurlos verschwunden, und Lokesh stand auf dem Torhof und schaute gen Himmel, als Shan ihn fand. »In den Gewölben wird es nicht viel anders sein«, sagte der alte Tibeter ehrfürchtig. »Heute spricht die Erde.«
    Dolan wütete ebenfalls wie ein Sturmwind, voller Wildheit und ohne jedes Anzeichen für die seltsame Unschlüssigkeit, die er noch am Vorabend gezeigt hatte. Offenbar rang seine Gottheit nun nicht mehr nach Luft. Auch Ko wirkte wie ein anderer Mensch, denn sein grüblerischer Trotz war einer kriecherischen Unterwürfigkeit gewichen. Shan hörte, wie er dem Amerikaner erklärte, daß sie dem Sturm entgehen könnten, indem sie in die Gewölbe hinunterstiegen, daß er den Weg zur dritten Ebene kannte, auch wenn die anderen es Dolan nicht verraten wollten, und daß er ihm unterwegs die kleinen Schätze der Kapellen zeigen würde.
    »Er hat die Schecks eingesteckt«, murmelte Corbett. »Zweihunderttausend Dollar. Vielleicht rechnet er sich nun doch eine Chance aus.«
    Die Schecks. Shan hatte gar nicht mehr daran gedacht.
    Bestürzt und verwirrt beobachtete er seinen Sohn, als sie in den unterirdischen Palast hinabstiegen, während Lokesh betend am Steinhaufen zurückblieb. Ko wich seinem Blick aus und schien darauf zu achten, daß sich stets Dolan oder Khan zwischen ihm und den anderen befand. Er scherzte mit Khan sogar über den kleinen goldenen Buddha, den er gestohlen unddem Mongolen gegeben hatte. Als sie den nachträglich gegrabenen Tunnel zur ersten Ebene verließen, schlug Ko dem Amerikaner vor, Khan mit den anderen zur dritten Ebene vorauszuschicken. Er selbst wollte Dolan die Schätze der Kapellen zeigen.
    Der Amerikaner war sofort einverstanden. Ko mußte vorangehen und die Lampe halten, während Dolan noch unter den Augen der anderen anfing, die Altargegenstände in einen Sack zu stopfen. Yao und Shan sahen sich müde an.
    Wortlos stiegen sie die Wandhaken zur zweiten Ebene hinauf und dann weiter über die schmale Treppe in den Maskenraum. Dort führte Shan die Gruppe bis zur Unterkunft des amban und entzündete mehrere Butterlampen. Er betrachtete die alten Gemälde an den Wänden, als von draußen ein leises, gespenstisches

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