Der verlorene Troll
Xaragitte.
»Ich habe auch schon daran gedacht«, gestand Yvon. Jede Faser seines Körpers schrie geradezu nach einer Rast. Er band die Ziege an einen Baum. »Ihr schlaft zuerst. Ich halte Wache, falls jemand kommt.«
Xaragitte setzte sich und stillte den Säugling, während Yvon ein Stück entfernt an einem kleinen Bach ihre Wasserflaschen füllte. Als er zurückkehrte, lag sie zusammengerollt auf der Seite, die Arme schützend um Claye gelegt. Dieser schlief ebenfalls, ein dünner Milchfaden tropfte aus seinem offenen Mund. Yvon lehnte sich neben ihnen an einen Baum und dachte an den Traum, den er die Nacht zuvor von Xaragitte geträumt hatte. Wie schön wäre es, wenn es so zwischen ihnen sein könnte.
Das nächste, was er hörte, war Xaragittes aufgeregtes Kreischen.
Er sprang auf und zog noch im Wachwerden sein Schwert. Mit klopfendem Herzen drehte er sich im Kreis und suchte die Umgebung nach Soldaten oder Bauernkriegern ab. Als er niemanden entdeckt hatte, rief er: »Keine Angst, wir sind nicht in Gefahr - hier sind keine Feinde! Alles ist gut!«
»Nichts ist gut«, schrie sie. »Wo ist Claye?«
Das Kind war nirgends zu sehen. Von Panik erfüllt rannte Yvon durch den Hain und brüllte den Namen des Jungen. Aus der anderen Richtung war Xaragittes Stimme zu hören, und zwischen ihren Rufen meinte Yvon irgendwann ein klackerndes Geräusch zu hören. Er folgte dem Klang und entdeckte Claye am Bach, wo er zwei Steine zusammenschlug und sie ins Wasser plumpsen ließ.
Neben ihm kauerte ein kleiner Bauernjunge mit dunklen Haaren und dunklen Augen.
»Hier!«, rief Yvon. »Er ist hier drüben. He! Hör auf!«
Das galt dem kleinen Bauernjungen, der einen Stock genommen hatte und diesen drohend über den Kopf hob. Doch der Ruf erschreckte Claye, er purzelte nach hinten und begann zu weinen.
Yvon sprang herbei und packte ihn, um zu verhindern, dass er ins Wasser rollte, als plötzlich eine weitere Stimme erklang.
»Sinnglas!«
Eine Bauersfrau, hochschwanger, watschelte das Bachufer entlang. Sie trug ein Kleid aus Hirschleder, das mit Glasperlen, Silberfaden und Stoffstreifen verziert war, und ihr üppiges, schwarzes Haar wurde von einem geschnitzten Knochenkamm zusammengehalten. Neben ihr rannte ein zweiter Junge, ein paar Jahre älter als der andere. Yvon blieb stehen und suchte die Landschaft nach Männern ab.
Xaragitte kam und riss Claye in ihre Arme. Sie gurrte tröstende Worte, die allerdings niemanden beruhigten.
Die Bauersfrau musterte Yvon stirnrunzelnd und stellte Xaragitte in scharfem Ton eine Frage.
»Was sagt sie?«, fragte Xaragitte, während sie Claye in ihren Armen wiegte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Yvon und ließ sein Schwert sinken. Er hatte niemanden sonst entdeckt.
Die beiden kleinen Buben waren vielleicht drei und fünf Jahre alt. Der Ältere gab dem Jüngeren Anweisungen. Der Kleine hielt immer noch den Stock in der Hand. Er schaute zu seiner Mutter und versetzte dann seinem Bruder einen Hieb. Der Größere entriss ihm den Stock und wollte ihn über seinem Knie zerbrechen, was ihm jedoch misslang.
Wieder sagte die Bauersfrau ein paar Worte zu Xaragitte, dann rief sie ihre Söhne zu sich, die Hände auf den Bauch gelegt. »Damaqua, Sinnglas!«
Ohne Yvon oder Xaragitte noch eines Blickes zu würdigen, wackelte sie davon, gefolgt von ihren Söhnen.
Xaragitte ließ Claye in ihren Armen wippen, um ihn aufzuheitern. Yvon marschierte neben ihr im Kreis. Weit und breit waren keine anderen Bauern zu sehen. Über ihnen am Himmel drehten einige schwarze Striche langsam ihre Runden. Geier. Sieben, acht. »Es ist nichts passiert«, sagte er entschieden. »Kein Grund zur Sorge.«
»Wir brauchen ein Versteck«, schimpfte Xaragitte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und wirkte gehetzt. »Ihr müsst vor Einbruch der Dunkelheit einen festen Unterschlupf für uns finden.«
Yvon erwiderte ihren Blick und nickte.
»Ihr müsst!«
»Das werde ich«, sagte er und schob sein Schwert zurück in die Scheide.
Sie hörten das Meckern der Ziege, als sie zu den Pflaumenbäumen zurückkehrten. Claye hörte auf zu weinen und drehte den Kopf neugierig in ihre Richtung. Yvon sagte nichts von den Geiern. Gab es Aas, waren bestimmt auch Löwen oder Wölfe in der Nähe. Er konnte nur hoffen, dass es Wölfe waren.
Nachdem sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammengepackt hatten, machten sie sich erneut auf den Weg. Auf Wiesen, die man einst für den Ackerbau gerodet hatte, wuchsen nun kleine Bäume, deren
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