Der verlorene Troll
ihre stämmigen Körper durch die Brombeerbüsche. Sie aßen, ohne zu sprechen, und füllten sich die Bäuche in der Dunkelheit. Währenddessen streunten die Kinder in ihrem Spiel immer weiter davon. Made war ein zartes Kind, und Windy blieb immer wieder fast das Herz stehen, wenn sie sah, wie er sich in Gefahr brachte. Seine Haut war so dünn, man konnte praktisch hindurchsehen. Sie folgte den Kindern und entkam dadurch den stichelnden Bemerkungen ihrer Mutter, was ihr nicht unrecht war.
Über dem Hang thronten einige Felsvorsprünge. Windy watete aus dem Brombeerdickicht heraus und setzte sich zu den Steinen. »Mit den dummen Toten reden«, nannten sie das, denn den Überlieferungen nach waren diese Felsen einst Trolle gewesen, die vom Sonnenlicht erwischt worden waren. Das Beste an den dummen Toten war, dachte Windy, dass ihr Fehler stets schlimmer war als das, was man selbst angestellt hatte.
»Hallo, ihr Dummköpfe«, sagte sie und tätschelte den Fels, ehe sie sich niederließ.
Ferne Berge ragten wie Wände zu beiden Seiten der Hochebene auf, und der dunkle Himmel, so nah, dass man fast meinte, ihn berühren zu können, ruhte wie ein beruhigendes, höhlenartiges Dach über allem. Nun, da sie ihren Sohn zum ersten Mal hierher gebracht hatte, erwachten in ihr die Erinnerungen an ihre eigene glückliche Kindheit: die kalte Schönheit langer Winternächte, ihre Lieblingsjahreszeit, ehe sie Mades Mutter wurde, wenn die Beerenrispen der Bergeschen sich leuchtend rot von der weißen Haut des vom Wind gekräuselten Schnees abhoben; die Düfte der Rhododendren, die unter sichelförmigen Frühlingsmonden blühten; die Lorbeersträucher an Mittsommer; die Heidelbeeren, Brombeeren, Teebeeren und Preiselbeeren, jede Beere zu ihrer Zeit, so viel man nur essen konnte; Sommernebel, so dicht, dass sie nur den Mund öffnen brauchte, um das Wasser direkt aus der Luft zu trinken, mit unerwarteten Frösten, die ihre Zehen kühlten, während sie auf den Wiesen herumstöberte. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr sie den Geruch des Luchssekrets vermisst hatte, ehe sie hierher zurückkam und einen Hauch davon aufschnappte.
Made spielte mit den Mädchen am Hang unter den Brombeerbüschen, am Rande der Sümpfe, wo die Preiselbeeren wuchsen und die Gräser vom Herbst schon dunkle Spitzen bekamen. Hinter ihm, etwa ei ne Meile entfernt, graste eine Herde Riesenelche. Die schwarzen Umrisse ihrer breiten, flachen Geweihe hoben und senkten sich vor dem dunkelblauen Nachthimmel. Sie zählte siebzehn Tiere, bevor diese allesamt ruckartig die Köpfe hoben und davonpreschten. Sie beugte sich vor und sah dort, wo die Elche gegrast hatten, einen Direwolf aus dem Gras springen.
Direwölfe jagten in Rudeln. Wo einer war, lauerten noch mehr. »Made«, sagte Windy mit leiser Stimme. Die Ohren ihres Sohnes waren scharf wie die Augen eines Trolls.
Er unterbrach sein Spiel und winkte ihr zu. Verwirrt schauten die zwei Mädchen auf.
»Bleibt in der Nähe«, sagte sie, sodass nur er es hören konnte. »Dort jagen Direwölfe.«
Er schnalzte mit den Lippen und nickte, als wüsste er es bereits. Dann legte er die Hände an den Mund. »Auuu-oooooo!«
Sein Schrei klang so sehr nach dem Heulen eines Direwolfs, dass ihr ein Schauer über den Rücken fuhr. Er konnte fast alle Tierlaute nachahmen. Sie beobachtete, wie er sich umdrehte und die Mädchen es ihm nachtaten. Als sie den Blicken der Kinder folgte und aufmerksam lauschte, hörte sie das leise Heulen des Direwolfs als Antwort.
»Bleibt in der Nähe!«, rief sie, so laut sie konnte.
Er winkte ihr wieder zu, und sie fühlte sich gleich besser. Danach taten die Mädchen so, als hätten sie Angst, und rannten davon, während er das Jaulen eines Direwolfs ausstieß und hinter ihnen her jagte. Der Anblick und das schrille Kreischen ihres Gelächters ließen Windy lächeln. Aber sie blieb wachsam. Ein Rudel Direwölfe konnte ohne weiteres einen einzelnen, erwachsenen Troll reißen. Und ihr Sohn war um einiges kleiner und schwächer als ein Troll.
An der steilen Kante des Hangs krümmte sich ein klägliches Wäldchen aus Rotzedern im unablässig wehenden Wind. Als die Mädchen in diese Richtung rannten, gefolgt von Made, dessen schulterlanges Haar wild im Wind flatterte, war Windy erleichtert. Dort konnte sie keine Wölfe oder sonst eine Gefahr wittern.
Windy schnupperte erneut und sog den Geruch der Bäume in sich auf. Unten im Tal schossen die Rotzedern weit in die Höhe, aber hier oben wurden die
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