Der verlorene Ursprung
erschöpft. Zusätzlich entfachten wir ein großes Lagerfeuer, um unsere Mahlzeit aufzuwärmen und zum Schutz vor Tieren. Ich weiß noch, wie benommen ich mich während des ganzen Abendessens fühlte, doch keiner blieb verschont: Als wir fertig waren, mußten wir alle unsere Teller, Gläser und das Besteck mit dem Wasser aus unseren Feldflaschen abwaschen. Anschließend befestigte jeder seine Hängematte in angemessener Höhe an den dicken Baumstämmen und band die Lianen so zusammen, daß sie nicht störten. Dann hängten wir die Moskitonetze an den untersten Ästen auf und breiteten sie über uns aus, immer darauf bedacht, daß kein Insekt hineingeriet. Dann legten wir uns schlafen. Doch obwohl ich in der vorherigen Nacht kein Auge zugetan hatte, fiel es mir schwer, Schlaf zu finden: Wie um Himmels willen sollte man in dieser Hängematte liegen, ohne daß sie unter dem Gewicht des Körpers in der Mitte schmerzhaft durchhing und sich an den Enden abrupt im rechten Winkel nach oben straffte? Ich war wohl nicht der einzige, der unruhig war, denn ich konnte das Quietschen der an den Baumstämmen entlangratschenden Kordeln hören, wenn Marc und Lola in ihren frei baumelnden Netzen herumrutschten und wie ich vor Schmerzen stöhnten wegen der blauen Flecken und Blasen, die sie sich im Laufe des Tages zugezogen hatten. Vor lauter Müdigkeit war ich nicht mehr in der Lage, sie anzusprechen.
Ich hatte das Gefühl, ich müßte mich völlig ruhig halten, egal wie sehr mich die Muskeln schmerzten, denn nur so hatte ich überhaupt eine Chance einzuschlafen. Und als ich meine erschöpften Augen im Licht des Lagerfeuers noch einmal kurz aufschlug, erschrak ich beim Anblick von uns sechs weißen Schmetterlingskokons. Denn diese baumelten über einem Haufen giftgelber Schlangen mit rombenförmigen schwarzen Flecken auf dem Rücken und winzigen funkelnden Äuglein. Der Boden war übersät von ihnen. Das Blut gefror mir in den Adern, und ich stöhnte auf, weil mein Körper sich in der verfluchten Hängematte anfühlte wie von tausend Nadelstichen gepeinigt. »Efrain«, rief ich so wenig hysterisch, wie ich konnte.
Doch Efrain schlief, leise schnarchend, den Schlaf der Gerechten und hörte mich nicht.
»Gertrude«, beharrte ich. »Efrain.«
»Was ist los, Root?« fragte Lola, die sich in ihrer Hängematte hin- und herwälzte wie eine Frühlingsrolle, um einen Blick auf mich werfen zu können.
Schweigend zeigte ich mit dem Finger auf den Boden. Sie blickte hinunter und verstand. Entsetzt riß sie den Mund auf, schrie drauflos, ein schrilles, nicht enden wollendes Kreischen. Sofort brach ein Heidenlärm im Dschungel los, überall krakeelte, brüllte, zwitscherte, gurrte, pfiff und heulte es drauflos. Doch Proxis Gebrüll überbot sie alle an Lautstärke.
Das panische Rufen der anderen, die durch den Krach wach wurden, gesellte sich plötzlich noch zu dem ganzen Getöse.
»Was ist denn los?« meldete sich Gertrude. Efrain griff noch im Halbschlaf nach der Machete, die er innerhalb seines Moskitonetzes in den Baumstamm gerammt hatte, und zog sich mit der anderen Hand den Hut vom Gesicht.
Lola schrie immer noch wie am Spieß, und Marc hörte nicht auf zu fluchen, daß es einem in den Ohren weh tat. Marta war die einzige, die, aus dem Schlaf hochgeschreckt, nicht die Fassung verlor.
Ich war noch wie benommen und zeigte immer wieder mechanisch nach unten. Als Gertrudes Blick meiner Geste folgte, entdeckte sie schließlich die Biester, die zusammengerollt oder im Zickzack wie ein Teppich den gesamten Boden unseres Schlafplatzes bedeckten.
»Schon gut, schon gut ...«, sagte sie ganz ruhig. »Kriegt euch wieder ein.«
»Was zum Teufel ist denn überhaupt los?« schimpfte Efrain, der nur mit Mühe die Augen aufbekam.
»Keine Sorge, Paps«, sagte seine Frau. »Da unten liegt nur eine Familie Pukararas, die sich ein wenig am Feuer wärmen wollen, sonst nichts.«
»Sonst nichts?« schrie Marc entsetzt.
»Hören Sie, Gertrude«, sagte ich. »Verstehen Sie denn nicht, was das bedeutet?«
»Natürlich verstehe ich das. Pukararas sind die größten Giftschlangen aus der Familie der Klapperschlangen, die es gibt. Allerdings besitzen die Pukararas gar keine Klappern. Von ihnen stammt übrigens das Antivenin, das Gegengift, das ich in meiner Reiseapotheke dabeihabe. Aber sie ernähren sich nur von Kleintieren und sind eigentlich für Menschen nicht gefährlich. Die Wärme hat sie angelockt. Wir müssen sie einfach nur in Frieden lassen.
Weitere Kostenlose Bücher