Der verlorene Ursprung
Sobald das Feuer heruntergebrannt ist, werden sie sich entfernen.«
»Im Dschungel wimmelt es nur so von ihnen«, bestätigte Marta seelenruhig.
»Stimmt. Seien Sie unbesorgt. Achten Sie nur darauf, daß Sie unterwegs auf keine treten und sie nicht aufscheuchen. Hier in unseren Hängematten sind wir vorerst sicher. Letzte Nacht waren sie bestimmt auch im Camp, und hat das jemand bemerkt?«
»Zum Glück nicht!« rief ich resigniert.
»Sobald das Feuer aus ist, verziehen sie sich, glauben Sie mir.«
»Na schön«, sagte Marc, »aber dann kommen die Pumas, die Löwen und die Hyänen ...«
»Hier gibt es keine Löwen, Marc«, klärte ihn Gertrude seelenruhig auf und versuchte, es sich in ihrer Hängematte bequem zu machen.
»Soll das etwa heißen, daß es Hyänen gibt?« fragte mein Freund erschrocken.
»Jetzt schlafen Sie endlich«, grummelte Efrain, der sich schon wieder in seinem Kokon zusammengerollt hatte.
In der Nacht tat ich erneut kein Auge zu. Wie denn auch bei all den Pukararas, die sich direkt unterhalb meiner Lenden schlängelten. Das war bereits die zwei Nacht. Noch nie hatte ich mich so ausgeliefert gefühlt. Bisher waren alle bedrohlichen Situationen in meinem Leben berechenbar gewesen, etwa der Sturz in den Abwässerkanal von Barcelona oder einige virusinfizierte Computer. Sie hatten mich jedenfalls nie in Todesgefahr gebracht. Aber jetzt war ich dermaßen erschöpft, daß mein Gehirn nicht mehr richtig funktionierte, ich schwitzte vor Panik aus sämtlichen Poren, und halb benommen, wie ich war, schossen mir ununterbrochen neue Schreckensbilder durch den Kopf.
Als das Lagerfeuer allmählich erlosch, begannen die Pukararas tatsächlich, sich zu verziehen. Doch die zwei restlichen Stunden bis zum Morgengrauen verbrachte ich in einem unruhigen Dämmerzustand. Es war die reinste Folter, bei der mich die absurdesten Bilder verfolgten. Ich wollte nur noch nach Hause. Bei meiner Großmutter sein, mit meinem Neffen spielen, meinen Bruder sehen. Fern der Heimat erschienen sie mir in meiner Hängematte unendlich kostbar. Wenn man an seine Grenzen stößt, unmittelbar vor dem Abgrund steht - oder es zumindest denkt -, verschwindet alles Unwesentliche von selbst. Nur das wirklich Wesentliche hat Bestand. Ich analysierte die Reihenfolge, in der meine Wünsche aufgetaucht waren: zuerst meine Wohnung, das heißt mein Umfeld, mein Heim, gleichsam ein Abbild meiner selbst. Es war die Zuflucht, wo ich mich sicher fühlen konnte, wo es meine Bücher gab, meine Lieblingsmusik, meine Konsolen für die Videospiele, meine Filmsammlung, meinen Garten . Dann meine Großmutter, die außergewöhnlichste Person auf der Welt, die ich als meine direkte Verbindung zum Leben und zu meinen Wurzeln verstand - wenn man das dazwischenliegende Glied meiner alles andere als klugen, oberflächlichen und charakterschwachen Mutter einmal ignorierte.
»Auf, auf, Freunde! Zeit zu frühstücken!«
Unser Wecker, der gute Efrain, hatte entschieden. Um fünf Uhr morgens hatten wir ausgeschlafen zu sein. Als ich aus meiner Hängematte sprang, quälte mich Muskelkater am ganzen Körper.
Wir marschierten sieben Stunden ohne Pause, ertrugen die drückende Hitze, die uns dieser neue Tag bescherte, und bahnten uns mühselig unseren Weg durch das Dickicht aus Schlingpflanzen. Meine Hände und die der anderen waren dermaßen zerschunden, daß wir sie kaum noch spürten, aber was machte das schon? Wir drei Grünschnäbel hatten uns in Zombies verwandelt, in Roboter. Und wenn ich schon völlig am Ende war, wie mochte es erst Marc und Lola gehen. Ihre Gesichter waren gespenstisch bleich und leblos, wie durch einen Zauberspruch nur stümperhaft von den Toten auferweckt. Wenn wir so weitermachten, würden wir niemals an unser Ziel gelangen.
In der folgenden Nacht konnten wir wieder die Zelte nicht aufstellen, so daß sich das unangenehme Abenteuer mit den Pukararas wiederholte. Doch mein Körper hatte die Faxen dicke, und endlich gelang es mir, einmal richtig durchzuschlafen und einigermaßen ausgeruht aufzuwachen. Es wäre ein perfekter Morgen gewesen, hätte uns nicht dichter Nebel eingehüllt, weswegen ich nicht erkennen konnte, was da schwer wie eine Dogge auf meinen Beinen lastete. Als ich mich in der Annahme umdrehte, es handele sich um einen Ast oder um den Rucksack eines meiner Kameraden, der schon wach war, und aufstehen wollte, zeigte sich, daß die vermeintliche Dogge vier flinke Pfoten mit scharfen Krallen besaß, die mich durchs
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