Der verlorene Ursprung
auf gefährlichen Boden gesetzt zu haben, weit überlegen. Wenn wir zufällig auf einen dieser unentdeckten Indianerstämme gestoßen waren, die Weiße quasi als Warnung töteten, damit niemand mehr ihr Territorium betrat, dann waren wir geliefert. Das war in den letzten Jahren mehrfach in Brasilien geschehen, wie Gertrude uns erzählt hatte, als an Umkehr nicht mehr zu denken war. Unsere leblosen Körper würden irgendwo in der Nähe einer zivilisierten Ortschaft auftauchen, sozusagen als unübersehbare, strategisch geschickt plazierte Warnung auftauchen: »Betreten verboten.«
Der Anführer, Befehlshaber, Kazike, Häuptling oder was auch immer, blieb vor mir stehen. Weil ich hinter den anderen über ihre Köpfe hinweg zugeschaut hatte, stand ich nun in der ersten Reihe, also in der Schußlinie. Der hochgewachsene, schlanke Mann war größer, als ich es vom Durchschnitt der bolivianischen Urbevölkerung kannte. Auch seine Haut hatte eine andere Färbung, ein rötliches Braun an Stelle des üblichen Kupferbrauns. Er war barfuß, trug einen langen Lendenschurz, der ihm bis zu den Knien reichte, und einen prächtigen Kopfschmuck aus Vogelfedern. In seinem Gesicht prangte eine große Tätowierung in Form eines schwarzen Quadrats - die ich für eine Maske gehalten hatte. Das Viereck reichte oben bis direkt unter die Wimpern des unteren Augenlids, und unten bildete es eine Linie von den Mundwinkeln bis zu den Ohren. Natürlich war das keine Farbe, die man mit ein bißchen Wasser hätte abwaschen können, sondern eine Tätowierung nach allen Regeln der Kunst. Die fünf Begleiter wiesen die gleiche auf, nur in Dunkelblau. Seine Gesichtszüge waren gestochen scharf und kantig, den geraden, feinen Linien der Aymara ähnlicher als den runden der Amazonasstämme.
Der Kerl schaute mich an, fixierte mich eine ganze Weile, ohne ein Wort zu sagen. Vielleicht hielt er mich wegen meiner Größe irrtümlicherweise für den Anführer dieser Gruppe von Weißen. Und da ich keine Möglichkeit sah, ihn eines Besseren zu belehren, hielt ich seinem Blick stand, mehr aus Angst denn um mich aufzuspielen. Als er das Anstarren leid war, trat er ebenso gemessenen wie würdigen Schritts zur Seite und pflanzte sich vor meinen Begleitern auf, so daß ich ihn aus dem Blick verlor. Ich wagte es natürlich nicht, zur Seite zu schielen, doch das Schweigen dauerte an. Ich schloß, daß er wohl ebenso verfuhr wie bei mir. Plötzlich brummte der Kerl etwas. Ich erwartete, daß uns die Lanzen jetzt erbarmungslos durchbohren würden, doch das taten sie nicht. Da wurde er ungeduldig und wiederholte die gleichen Worte noch einmal fast schreiend. In der Stille des Platzes wurde das Echo seiner dröhnenden Stimme von allen Seiten kreuz und quer zurückgeworfen. Oben in den Baumkronen fingen die Brüllaffen wieder an draufloszukreischen. Als er seine Aufforderung zum dritten Mal auf reichlich unwirsche Weise wiederholte, drehte ich mich ganz behutsam um und sah, daß Marc und Gertrude sich ebenfalls umblickten. Der Häuptling hob den rechten Arm, so daß der Steinring in seiner Hand sichtbar wurde. Er zeigte mit dem linken Zeigefinger darauf und wiederholte zum vierten Mal das, was sich wie eine reichlich barsche Frage anhörte.
Es war Gertrude, die es wagte, vielleicht aufgrund ihrer früheren Erfahrungen im Umgang mit - bekannten oder unbekannten - Amazonasstämmen, in unserem Namen zu antworten.
»Dieser Gegenstand«, sagte sie mit der sanften, behutsamen Stimme einer Raubtierdompteuse, die auf das schwierigste ihrer Tiere einredet, »haben wir in Tiahuanaco gefunden ... in Taipikala.«
»Taipikala!« rief der Federgeschmückte triumphierend aus, und zu unserer Überraschung stimmten alle Männer, seine Eskorte und die auf den Dächern Postierten, mit ein und wiederholten voller Begeisterung das Wort. Doch damit schien der Anführer sich offensichtlich noch nicht zufriedenzugeben, denn anschließend hob er den Steinring erneut in die Höhe und ließ, an Gertrude gewandt, einen unverständlichen Wortschwall los.
Sie hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken, und - sagte nichts. Das schien ihn zu ärgern, denn schließlich trat er ein paar Schritte auf sie zu, blieb weniger als einen Meter vor ihr stehen, hielt ihr den Ring unter die Nase und wiederholte seine rätselhafte Frage.
»Sag etwas, mein Engel«, flüsterte Efrain ihr flehend zu.
»Sag ihm egal was.«
Der Kazike warf ihm einen vernichtenden Blick zu, während einer seiner
Weitere Kostenlose Bücher