Der verlorene Ursprung
mich die Vorstellung, ein Freiheitskämpfer zu sein, immer gereizt. Ich war Hacker aus Überzeugung und fand die Idee geradezu umwerfend, die Geschichtsbücher umzuschreiben, damit die Kinder in den Schulen sich mit den Giganten, der Karte des Piri Reis und allem auseinandersetzen mußten, was das etablierte Wissen in Frage stellte.
Langsam näherten wir uns dem Ende von Daniels Textsammlung (die Datei hatte dreißig Seiten, und wir waren inzwischen auf Seite fünfundzwanzig), und die Geschichte wurde immer interessanter. Ein langer Abschnitt erklärte, daß die Yatiri aus Taipikala in Anbetracht der wiederholten Warnung der Sterne vor einem feindlichen Heer beschlossen, sich als Bauern und Händler unter die Bevölkerung der nahen Colla-Reiche zu mischen. Bevor sie jedoch die Mauern Taipikalas für immer verlassen konnten, hatten sie noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: Sie mußten den Reisenden verstecken. Denn sie konnten nicht fortziehen, ohne seinen Körper und die Grabbeigaben gut geschützt zu wissen. Auch waren die Pyramide und die Grabkammer deutlich auf einem Relief am Portal des Bauwerks zu erkennen. Also ersetzten sie es durch ein anderes und verbargen die Pyramide in zwei Jahre währender Arbeit unter einem Hügel aus Erde und Steinen. Dann fiel eines Nachts Sternenregen vom Himmel, einmal, zweimal, und der zweite Sternenregen war noch viel stärker als der erste und zeichnete sich durch beeindruckende Sternschnuppen aus. So wurde den Yatiri die Ankunft eines zweiten Heeres angekündigt, welches das erste besiegen und die Welt für immer verändern sollte. Da schrieben sie ihre Geschichte auf Goldtafeln nieder, auf denen sie auch festhielten, wo sie sich verstecken würden. Über einen der verborgenen Gänge, die von geheimen Orten aus zur Pyramide führten, drangen sie ein letztes Mal in die Grabkammer vor, stellten Goldtafeln hinein und trafen weitere Schutzvorkehrungen, um den Zugang zu versiegeln. Sie würden alles in ihrer Macht Stehende tun, um Willka am Himmel zu halten. Sollte die Sonne aber jemals wieder verschwinden, würden die überlebenden Menschen ihr Vermächtnis finden.
Und dann kamen die Incap rúnam ...
»Damit sind bestimmt die Inka gemeint.«
»Wahrscheinlich.«
Die Yatiri hatten sich unter die Bevölkerung der eroberten Dörfer und Städte gemischt und sahen sie einmarschieren. Ihr Anführer war Pachacuti (oder Pachakutej, wie eine bolivianische Zeitschrift ihn nannte). Der neunte Inka war ungewöhnlich groß, hatte ein rundes Gesicht und trug ein rötliches Gewand mit zwei langen Tocapu-Streifen vom Hals bis zu den Füßen, dazu einen weiten grünen Umhang. Die Stadt Taipikala verlor ihren Namen und wurde fortan von den Incap rúnam Tiahuanaco genannt. Der Name blieb bis zur Ankunft der Viracochas. So nämlich tauften die Inka die Spanier, weil sie dem Gott Viracocha so ähnlich waren: weiß und bärtig und mit einer Sprache, die klang wie ein Bergbach in seinem steinigen Bett. Die Menschen hatten panische Angst vor den Viracochas, diesen gierigen Wesen, die das Gold, das Silber und die Edelsteine raubten, die Männer und Kinder versklavten und töteten und die Frauen vergewaltigten. Wie die Incap runam Jahre zuvor den Gott Viracocha mitgebracht hatten, so brachten nun die Spanier ihren eigenen Gott mit, allerdings setzten sie ihn mit Peitschen-und Stockhieben durch, zerstörten die alten Tempel und bauten mit den Steinen überall ihre Kirchen.
»In dieser großartigen Epoche«, bemerkte ich gedankenverloren, »muß Pedro Sarmiento de Gamboa in El Collao, dem Gebiet um Tiahuanaco, auf die Yatiri gestoßen sein. Wir sprechen also vom Jahr 1575.«
»Vierzig Jahre nachdem Pizarro den letzten Inka in Cajamarca umgebracht und das Inkareich erobert hatte«, ergänzte Proxi.
»Ganz genau.«
Aber schlimmer noch als die Sklaverei, die Folter und die neue Religion waren die tödlichen Fieber, an denen die Bevölkerung nach der Ankunft der spanischen Eroberer zugrunde ging. Wo immer diese vorbeizogen, starben die Ureinwohner zu Tausenden, dahingerafft von seltsamen Krankheiten, die die Yatiri nicht kannten und daher nicht zu heilen vermochten. Auch sie begannen dahinzusiechen, und bevor niemand mehr übrigblieb, um das alte Wissen zu bewahren, beschlossen sie, den Plan weiter zu verfolgen, der sie aus Taipikala hatte fortziehen lassen. Eines Tages brachen sie auf. Niemand wußte, wohin, doch einige wenige kurze Gedichte künden von der Freude der Aymara darüber, daß ihnen die
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