Der verlorene Ursprung
Flucht gelungen war.
Und das war alles. Daniel hatte nichts weiter hinzugefügt. Wir suchten die Festplatte gründlich nach weiterer Information ab, fanden aber nichts. Noch nicht einmal eine von >Jovi-Loom< angefertigte Transkription des Fluchs, was uns besonders überraschte.
»Wißt ihr, was meine Mutter mir immer erzählt hat, als ich klein war?« fragte Jabba mich und Proxi (die nebenher mit ihren eigenen Nachforschungen beschäftigt war). »Daß wir Spanier die südamerikanischen Indios weniger grausam behandelt hätten als die Engländer die Indianer Nordamerikas. Daß wir viele kleine Mischlinge gezeugt hätten, während die nordamerikanischen Indianer nahezu ausgerottet worden seien. Deshalb würden jetzt nur noch wenige in den Reservaten leben, während die Indios in Südamerika als gute Christen in ihren eigenen Ländern geblieben seien.«
Jabbas Mutter kam zwar aus der Hauptstadt Madrid, aber auch meine Mutter hatte mir eine ähnliche Story erzählt, als ich klein war. Diese befremdliche Vorstellung unserer Mütter war zweifellos das Ergebnis der nationalistischen und katholischen Erziehung unter Franco. Die Argumente mußten bis zum Erbrechen und in alle Ewigkeit wiederholt worden sein, um das kollektive Gewissen zu beruhigen. Wenn die Engländer schlimmer waren als wir, dann konnten wir Spanier nicht so schlecht sein; dann waren wir vergleichsweise gute Menschen mit einer wunderbaren Geschichte. Zwar hatte Katalonien nicht an der Seite Kastiliens an der Eroberung Amerikas teilgenommen - das Königreich Kastilien hatte den Kontinent entdeckt und daher allen Reichtum für sich reklamiert -, aber von der zweiten Reise des Kolumbus an waren wir Katalanen, Aragonesen und Valencianer nach Westindien gereist und hatten uns dort niedergelassen.
»Und was sagst du zur Geschichte der Yatiri, Jabba?« Ich strich mir mit der Hand über mein Bärtchen.
»Keine Ahnung ...« Er dachte einen Augenblick nach und riß dann erschrocken die Augen auf. »Wir müssen doch wohl nicht nach Tiahuanaco reisen, um die Pyramide des Reisenden zu suchen?!«
Auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen.
»Also jetzt, wo du’s sagst ...«
Sein Blick verdüsterte sich. Bei der Vorstellung, in ein Flugzeug zu steigen, erstarrte er jedesmal vor Schreck. Trotzdem flog er. Er flog sogar in die entlegensten Winkel der Welt, ohne sich zu weigern oder Theater zu machen. Allerdings war er immer davon überzeugt, daß er nie wieder festen Boden unter den Füßen spüren würde. Auf jeder Flugreise fügte er sich in sein Schicksal - sein vermeintlich tödliches Schicksal.
»Wir sollten uns Tiahuanaco vorknöpfen«, schlug er vor, »und alles über die Pyramide des Reisenden herausfinden. Vielleicht ist sie vor Jahrhunderten geplündert worden, und es ist gar nichts mehr drin!«
»Vielleicht.«
Da räusperte sich Proxi laut und vernehmlich. »Wie viele Karten von Tiahuanaco wollt ihr haben?«
»Wie viele hast du denn?« Ich beugte mich über die Tastatur meines Rechners, und Jabba tat es mir an einem der anderen Computer nach.
»Drei oder vier sind ganz akzeptabel. Der Rest taugt nichts.«
»Dann schick sie an den Drucker.«
»Ich will sie erst ein bißchen bearbeiten. Sie sind ziemlich klein und haben eine niedrige Auflösung.«
»Ich guck mir mal alle Websites über Tiahuanaco an«, informierte ich Jabba, »und du suchst derweil nach Tiahuanacu, Tihuanaco und sämtlichen anderen möglichen Schreibweisen.«
»Ich helfe euch«, warf meine Lieblingssöldnerin ein.
Der Laserdrucker spuckte die Teile der zweiten Karte aus, als Magdalena eintrat und uns zum Essen rief. Wir hatten einige stürmische Tage hinter uns, und die Arbeit, die noch vor uns lag, war nicht weniger aufwühlend: Die Suche nach Tiahuanaco im Netz hatte mir über 3300 Dokumente geliefert, die überprüft werden mußten, und Jabba und Proxi hatte kein besseres Schicksal ereilt. Entweder wir grenzten die Suche ein, oder wir würden darüber alt und grau werden. Aber zunächst mußten wir mal essen.
Mit dampfenden Kaffeetassen kehrten wir ins Büro zurück. Wir hatten einen langen Abend vor uns. Beim Zusammenkleben der Karten mit Tesa und Klebestift fühlten wir uns zurückversetzt in unsere Schulzeit. Wir hefteten die derart rekonstruierten Karten mit Reißzwecken an die Wände, um eine bessere Vorstellung von der Ausgrabungsstätte zu bekommen. Im Zentrum zwischen dem Norden am oberen und dem Süden am unteren Rand drängten sich drei der wichtigsten Bauwerke.
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