Der verlorene Ursprung
Kolossal und majestätisch überragte die Akapana, eine riesige, siebenstufige Pyramide mit einer Grundfläche von ungefähr vierzigtausend Quadratmetern, die anderen, obwohl nur noch zehn Prozent der Originalsteine vorhanden waren. Den Fachleuten zufolge hatte sie als Wasserspeicher und Materiallager und darüber hinaus religiösen Zwecken gedient. In anderen Dokumenten lasen wir, daß sie eine Sternwarte gewesen sein sollte. Erst vor kurzem waren die Archäologen auf ein komplexes Netz seltsamer, im Zickzack verlaufender Kanäle in ihrem Inneren gestoßen, die für gewöhnliche Leitungen gehalten wurden -, was natürlich nur eine Vermutung war. Zunächst dachten wir, daß Akapana vielleicht >der Reisende< bedeutete. Ein Reinfall für uns, denn die wortwörtliche Übersetzung lautete sowohl >Von hier aus wird gemessen< als auch >Hier sitzt eine weiße Wildente<.
»Wenn uns Daniel bloß helfen könnte!« seufzte Proxi.
»Wenn uns Daniel helfen könnte, säßen wir jetzt nicht hier«, gab Jabba zurück, und ich nickte.
Nördlich von der Akapana waren zwei weitere Gebäude zu sehen: Das rechte, sehr kleine, stellte sich als der halb unterirdische Tempel heraus - der mit den Wänden voller eingefügter Köpfe, die korrekt Nagelköpfe hießen, wie mir inzwischen bekannt war -, und das andere, sehr viel größere, war der Kalasasaya, ein Zeremonialtempel unter freiem Himmel aus rotem Sandstein und grünlichem Andesit mit über zehntausend Quadratmetern Grundfläche. Er war als flacher, erhöhter Platz über der Erde errichtet worden und von einer Stützmauer umgeben, hinter der ein großer rechteckiger Hof lag, zu dem man über sechs in den Fels gehauene Stufen hinabsteigen mußte. Offensichtlich war dieser riesige Tempel aus über fünf Meter hohen und hundert Tonnen schweren Steinquadern erbaut worden. Sie waren laut Website des Museums von Tiahuanaco zum Teil aus über dreihundert Kilometer entfernten Steinbrüchen herbeigeschafft worden.
»Uff! Wie haben die das gemacht? Die kannten doch das Rad noch gar nicht!«
»Vergiß es, Proxi!« befahl ich. »Wir haben nicht die Zeit, jedes Rätsel zu lösen.«
»Also, mich erinnert das Ganze ja irgendwie an die ägyptischen Pyramiden«, bemerkte Jabba. »Dieselben riesigen Steine, dasselbe Rätselraten darum, wie die Steine ohne das Rad transportiert werden konnten, dieselbe Bauweise ...«
»Und das heilige Blut«, ergänzte ich spöttisch. »Vergiß das heilige Blut nicht. Die ägyptischen Pharaonen heirateten ihre Schwestern, weil sie ebenfalls die Reinheit des Blutes bewahren mußten. Und sie dachten, sie wären Kinder der Sonne. Wie hieß der Sonnengott noch gleich? Aton? Ra?«
»Mach dich nur lustig! Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten.«
»Hört euch das mal an!« Proxi starrte auf den Bildschirm.
»Noch mehr komisches Zeug?« fragte ich.
»Ich hab was gefunden über einen gewissen Arthur Pos-nansky, einen Schiffsingenieur, Kartographen und Archäologen. Er hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr als hundert Werke über Tiahuanaco geschrieben. Dieser Typ hat sein ganzes Leben der Erforschung der Ruinen gewidmet und ist zu dem Schluß gekommen, daß sie von einer Zivilisation erbaut worden sein müssen, die uns wissenschaftlich und technologisch weit überlegen war. Nachdem er die gesamte Anlage vermessen, kartographiert und mittels komplizierter Berechnungen unter Berücksichtigung der veränderten Position der Erde in bezug auf die Sonne analysiert hatte, kam er zu dem Ergebnis, daß Tiahuanaco vor vierzehntausend Jahren errichtet worden sein muß. Das wiederum würde sich mit der Geschichte der Yatiri decken.«
»Ich wette, daß die Archäologen an den Hochschulen diese Theorie nicht ernst nehmen«, bemerkte ich.
»Selbstverständlich nicht! Laut geltender Lehrmeinung kann es vor zehntausend Jahren einfach keine Hochkultur gegeben haben. Damals, so muß man annehmen, hüllte sich der Mensch in Felle und lebte in Höhlen, um sich vor der Kälte der letzten Eiszeit zu schützen. Trotzdem gibt es eine beträchtliche Gruppe von Archäologen, die Posnanskys Ergebnisse für richtig hält und sie mit Klauen und Zähnen verteidigt. In Bolivien ist Posnansky anscheinend auch lange nach seinem Tod noch eine Berühmtheit.«
»Kann denn Tiahuanaco wirklich schon vor vierzehntausend Jahren erbaut worden sein?« staunte Jabba.
»Was weiß ich ...«, entgegnete ich. »Alles an Tiahuanaco ist seltsam.«
Stieg man die Treppe in den Kalasasaya-Tempel
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