Der verlorene Ursprung
Schädel, gefunden.
»Zweite Voraussetzung erfüllt!« verkündete Proxi kryptisch.
Doch mehr mußte sie nicht sagen. Jabba und ich hatten inzwischen begriffen, daß wir uns dem Ziel näherten: Gemäß der Chronik der Yatiri lag die Pyramide des Reisenden weitab vom Rest der Gebäude und war der heiligste Ort von Taipikala. Die Schädel waren nur ein weiterer Hinweis, daß wir auf der richtigen Spur waren.
Nach Aussage der Fachleute war das Mondtor genau wie das Puma Punku und andere Gebäude unvollendet geblieben, so als hätten die Erbauer es eilig gehabt zu verschwinden und Hammer und Meißel von einem Tag auf den anderen fallengelassen. Dadurch blieb von dem Ort nur der traurige Anblick eines schmucklosen Türsturzes und der von zwei Türpfosten unterbrochenen Leere.
»Dritte Voraussetzung erfüllt, meine Herren!« verkündete Proxi triumphierend.
»Ich kann dir nicht folgen«, bemerkte ich nervös.
»Die Yatiri sind doch Hals über Kopf aus Taipikala geflüchtet, als sie in den Sternen lasen, daß die Incap runam nahten und hinter ihnen die Spanier. Um die Pyramide des Reisenden zu schützen, haben sie diese eilig unter einem Erd- und Steinhaufen vergraben. Sie haben das ursprüngliche Tor weggeschafft, auf dessen Reliefs die Pyramide und die darunterliegende Kammer abgebildet waren, und ein schmuckloses Tor auf den Hügel gestellt. Ich glaube nicht, daß sie Zeit hatten, alles gepflegt zu hinterlassen. Apropos, Jabba, du hockst doch auf den Wörterbüchern. Wie lautet das Aymara-Wort für >Pyramide Wie würde also >Pyramide des Reisenden< auf Aymara heißen?«
»Liebling, du nervst!« beschwerte sich Marc und reckte den Oberkörper, um an die Bücher zu kommen.
»Dann . «, stammelte ich, »muß die dreistöckige Pyramide des Zeptergotts unter diesem Hügel liegen!«
»Hilf du Jabba, Root! Ich gucke mal, was ich hier noch finde.«
Wenn Proxi die Arbeit organisierte, widersprach ihr niemand, noch nicht einmal ich - und ich war ihr Chef! Also schnappte ich mir eines der Wörterbücher und begann zu suchen. Nach einer Weile und leiser Beratung mit Jabba, um Proxi nicht zu stören, machten wir eine weitere Entdeckung, die wir meiner Lieblingssöldnerin mitteilten. Sofort glättete sich ihre Stirn. Die Aymara hatten kein Wort für >Pyramide<. Für sie waren diese Bauwerke Nachahmungen von Bergen, und so wurden sie auch benannt: Hügel, Bergzug, Berg, Haufen, Erhebung ...
»Zusammenfassend?«
»Zusammenfassend«, erklärte ich, »lautet das Aymara-Wort für Pyramide >qullu<.«
»Wie in >Lakaqullu«
»Wie in >Lakaqullu<«, bestätigte ich, »was außer >Steinhaufen< auch noch >Steinpyramide< heißt.«
»Das haben doch die Yatiri angelegt, um den Reisenden zu verbergen: eine Pyramide aus Erde und Steinen.«
»Und du, hast du schon gefunden, wonach du gesucht hast?« fragte Jabba, als wäre das hier ein Wettbewerb.
»Na klar!« rief sie lächelnd aus. »Die Regierung Boliviens hat ein bestens verlinktes Internetportal und eine hervorragende Seite mit Tourismusinformationen. Wenn du nach Tiahuanaco suchst .« Sie betätigte rasch ein paar Tasten, um den Artikel in den Vordergrund zu holen. »... stößt du unter anderem auf folgenden Satz: >Das Mondtor steht auf einer rechteckigen, dreistufigen Pyramide.< Spitze, was?«
»Nur das?« fragte ich nach einer Pause. »Mehr nicht?«
»Was willst du denn noch?« fragte sie überrascht. »Gib dich zufrieden, Junge. Wir haben die einzige dreistufige Pyramide von ganz Tiahuanaco gefunden!« Sie rollte die Augen und sah Jabba an. »Und der Typ da fragt, ob die Anmerkung über das Mondtor noch mehr hergibt. Herrje, Root, du bist vielleicht komisch!«
»Dieser ganze Mist macht mich eben nervös.«
»Macht dich nervös?« fragte Jabba. »Was zum Teufel macht dich denn daran nervös?«
»Kapiert ihr das denn nicht?« Ich stand auf. »Jetzt wird’s ernst. Der ganze Wahnsinn stimmt! Der Fluch existiert, die perfekte Sprache existiert, es existieren sogar Typen, die behaupten, daß sie von Giganten abstammen und über die Macht der Worte verfügen ... Und es gibt zu allem Überfluß eine verfluchte dreistufige Pyramide in Tiahuanaco!« Ich stürzte mich auf Daniels Unterlagen und wühlte in den Papieren, bis ich fand, was ich suchte. Proxi und Jabba beobachteten mich gebannt. Endlich hatte ich begriffen, daß dieses Spiel sehr real und äußerst gefährlich war. Mein Bruder litt weder an Agnosie noch am Cotardsyndrom!
»Hörst du nicht, Dieb?« begann ich
Weitere Kostenlose Bücher