Der verlorne Sohn
die Patientin gefährlich werden konnte. Er versuchte darum auch jetzt noch, den mildesten Weg einzuschlagen, und fragte also:
»Sind Sie im Besitze von Kleinodien?«
»Kleinodien?« fragte der Schreiber erstaunt. »Sehen Sie sich um! Mein einziges Kleinod ist mein gutes Gewissen.«
»Sie haben keine kostbaren Uhren, Ringe, Ketten und dergleichen?«
»Gott, woher sollte ich solche Kostbarkeiten nehmen?«
»Und dennoch spricht man davon, daß solche Dinge bei Ihnen zu finden seien!«
»Herr, das könnte ich nicht begreifen. Meinen Sie etwa, daß ich Goldgeschmeide über die Grenze pasche? Ah, Herr Gensd’arm, hat man mich vielleicht als Schmuggler verdächtigt?«
»Ich habe darauf nicht zu antworten und will jetzt allen Ernstes meine Frage wiederholen.«
Da versuchte die Kranke, sich empor zu richten. Sie schüttelte unter einem traurigen Lächeln den Kopf und sagte:
»Herr, ich weiß, was Sie wollen! Man hat meinen Mann verdächtigt, und Sie sind gekommen, bei uns auszusuchen. Thun Sie das! Wir können ruhig sein!«
»Ja, thun Sie es,« sagte auch der Schreiber. »Man hat ja seine Feinde. Oder es hat sich Jemand einen albernen Scherz erlaubt.«
»Ich hoffe, daß es so ist,« meinte der Beamte. »Ich will nicht noch Andere hinzuziehen, da Sie mir erlauben, mich bei Ihnen umzusehen. Beginnen wir also!«
Er durchsuchte die vorhandenen Kasten und sonstigen Behältnisse resultatlos und ließ sich dann die Kammer zeigen. Vater und Tochter mußten ihm dorthin folgen. Auch hier wurde nichts gefunden. Nur eine kleine Truhe hatte er noch zu öffnen.
»Sie haben wirklich keinen der angegebenen Gegenstände in Ihrem Besitz?« fragte er nochmals.
»Nein.«
»Auch Sie nicht, Fräulein?«
»Nein,« antwortete sie.
»Gehört diese Truhe vielleicht Ihnen?«
»Ja; sie enthält nur meine Sachen.«
»So haben Sie die Güte mir den Inhalt zu zeigen!«
Sie öffnete und nahm Alles heraus. Es gab da einige grobe Wäsche und Kleidungsstücke, dann Kleinigkeiten, welche keinen Werth haben, von einem jungen Mädchen aber doch werth gehalten werden. Dabei befand sich auch ein kleines Pappschächtelchen. Es mochte früher Pillen oder sonstige Arznei enthalten haben.
»Was ist hier drin?« fragte der Gensd’arm.
Da sahen Vater und Tochter einander verlegen an. Sollte man nach diesem Gegenstande suchen?
»Ein Ring,« antwortete der Schreiber.
»Ein Ring? Sie haben doch wiederholt behauptet, daß Sie keinen Ring besitzen!«
»Sie haben doch nach Schmucksachen, nach Kostbarkeiten gefragt!«
»Gehören Ringe nicht zu den Schmucksachen? Zeigen Sie ihn!«
Das Mädchen öffnete das Schächtelchen, nahm den in Watte liegenden Ring heraus und gab ihn dem Beamten. Dieser betrachtete ihn aufmerksam und fragte dann:
»Ist der Ring Ihr Eigenthum, Fräulein?«
»Nein.«
»Wem gehört er?«
»Herrn – Herrn Seidelmann,« antwortete sie.
»Wie kommt er in Ihren Besitz?«
»Ich – ich habe ihn gefunden.«
»Und nicht zurückgegeben! Hat Ihr Vater davon gewußt?«
»Ich habe es gewußt,« antwortete der Schreiber.
Dem Gensd’arm that das Herz weh. Er war erst vor Kurzem in diese Gegend versetzt worden. Er kannte die Familie des Schreibers nicht; aber er sah die bittere Armuth rings umher; er blickte in das ehrliche, wenn auch verlegene Gesicht des Mannes und dieses Mädchens und sagte:
»Nach diesem Ringe habe ich gesucht. Es wurde Anzeige gemacht, daß er gestohlen worden sei. Sie haben geleugnet, solche Gegenstände zu besitzen. Wissen Sie, daß ich eigentlich gezwungen bin, Sie beide zu arretiren?«
»Um Gotteswillen!« rief der Schreiber.
»Ja! Ihre Tochter als Diebin und Sie als Hehler! Was hätten Sie wohl dagegen vorzubringen?«
»Herr, wir sind ehrliche Leute!«
»Und doch finde ich bei Ihnen den Ring, dessen Besitzer behauptet, daß er ihm gestohlen worden sei!«
»Ich habe ihn nicht gestohlen!« sagte das Mädchen. »Ich habe ihn nur zurückbehalten, weil ich Ursache dazu habe.«
»Ich will Ihnen alles Mögliche glauben. Ich habe auch nicht weitere Fragen an Sie zu stellen. Ich habe den Ring bei Ihnen gefunden; das muß mir genug sein. Sie aber haben sich zu verantworten. Ich wiederhole, daß ich Sie eigentlich arretiren müßte; aber Sie dauern mich, und ich will Ihnen diese Schande nicht anthun. Versprechen Sie mir, daß Sie Beide in zehn Minuten beim Bürgermeister sein werden?«
»Ja, das verspreche ich,« antwortete der Schreiber. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt. Wir werden kommen!«
»Gut! Ich
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