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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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lasse er sich aus Clavering bringen, drüben in Essex, und das seien prächtige Exemplare, geschmeidige, fette Viecher, aus denen man einen Mantel schneidern könnte. Er habe keine Verwendung für noch mehr Ratten, und schon gar nicht für die kleinen, verdreckten Kanalratten. Schließlich betreibe er ein Lokal erster Güte, und seine Kundschaft sei sehr mäkelig. Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen. Ein Mann von Toms Gewerbe, der mit Geld um sich schmiss – da stimmte was nicht. Hier sprach ein Narr mit vom Alkohol gelöster Zunge. Er lehnte Toms Einladung zu einem weiteren Glas ab und sagte kein Wort mehr.
    Entmutigt machte sich Tom langsam auf den Rückweg zu seiner Bleibe. Mehr als einmal erhaschte er in der hereinbrechenden Dämmerung einen flüchtigen Blick auf einen weißen Hund, und wenn das Tier dann auf eine bestimmte Art die Schnauze in die Luft reckte oder sich den Bauch im Staub rieb, machte sein Herz einen Sprung. Mehr als einmal rief er ihren Namen. Aber nie war sie es. Ihm taten die Füße weh. Er, der stets die Einsamkeit gesucht und sich nur dann wirklich wohl gefühlt hatte, wenn er für sich war, spürte nun die Last des Alleinseins schwer wie einen Mantel auf den Schultern.
    Einem plötzlichen Impuls nachgebend, folgte er dem verschlungenen Verlauf einer Gasse bis hinunter zur Themse. Selbst am Sonntag herrschte auf den Docks geschäftiges Treiben; Rufe in allen möglichen Sprachen hallten durch den frühen Abend und vermischten sich mit dem Platschen des Wassers, mit Hammerschlägen, den Klagelauten von Tieren und Kettengerassel. Zwischen den Ausdünstungen von Schlamm, Salz, Teer und Schweiß machte Tom den herben Geruch von starkem Tabak aus, das sonnengesättigte Aroma von Rum, den ranzigen Gestank von Häuten, die fremdländischen Wohlgerüche von Kaffee und Gewürzen, den warmen Brodem von Wein und den Hefeduft von Trockenfäule. Am Kai löschte gerade eine sardische Brigg ihre Ladung, und am Ufer stapelten sich Tonnen und Fässer. Tom musste zur Seite treten, als sich sechs nebeneinander gehende Matrosen von der Brigg an ihm vorbeidrängten. Unter ihren schwarzen Bärten glitzerten goldene Ohrringe, und ihre roten Hemden steckten an der Taille in bunten Schärpen. Sie rochen streng nach Schweiß und Knoblauch und ließen ihre reichlich vorhandenen Goldzähne funkeln, wenn sie grinsten und herumalberten und den düsteren Winternachmittag mit der Musik ihrer fremdartigen Laute erfüllten. Ein wenig entfernt im Schatten eines hoch aufragenden Lagerhauses warf eine Schenke ihr Licht auf den schlammigen Boden. Durch das laute Stimmengewirr hindurch vernahm Tom undeutlich das Kreischen einer Fiedel, die ein irisches Tanzlied spielte.
    Er trat ein. Die Taverne war gerammelt voll mit Seeleuten, die in einem Dutzend verschiedener Sprachen durcheinander schrien, und alles drängte sich um einen Geiger mit einer roten Halsbinde, der auf einem Tisch in der Mitte der Gaststube stand. Sein Bogen bearbeitete die Fiedel mit solchem Schwung, dass man hätte meinen können, er wolle sie geradewegs in zwei Teile zersägen, und er stampfte mit dem Stiefel auf die abgestoßene Tischplatte, bis der ganze Tisch im Takt der Musik hüpfte. Um ihn herum grölten und klatschten die Matrosen mit und gaben ihren Sold mit vollen Händen aus. Eine Frau mit verfilztem Haar und den flinken Augen eines Wiesels zupfte ihren Mann am Wams, endlich mit ihr nach Hause zu kommen. Er schlug ihr auf die Hände und versetzte ihr obendrein eine Ohrfeige, um sich dann zu seinen Kumpanen zu gesellen, die ihn in ihrer Mitte aufnahmen. Die Frau spuckte verächtlich vor den Männern aus, warf ihnen einen Schwall von Flüchen an den Kopf und stürmte aus der Schenke.
    Tom suchte sich eine Ecke, wo die Gefahr nicht so groß war, auf die Zehen getreten zu werden, und ließ mit geschlossenen Augen das Stampfen und Kreischen der Musik auf sich wirken. Zwei Männer, allem Anschein nach Tagelöhner, stellten neben ihm ihre Krüge auf dem Fenstersims ab.
    »Hör mal, gestern Abend hab ich was gesehen, das glaubst du nicht«, brüllte der eine dem anderen ins Ohr. »So was hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen.«
    Über seinen Krug gebeugt, zog der andere eine Augenbraue hoch und sog an seiner Pfeife.
    »Drüben bei Spanks. War ziemlich ekelig, das Ganze. Aber so wahr ich hier steh, kein Mörder in der ganzen Menschheitsgeschichte war auch nur halb so blutrünstig. Hat zwanzig Ratten in ’ner einzigen Minute erledigt – ich würd’s

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