Der Vermesser (German Edition)
William in die Nase und drang ihm in den Schädel. Die Leiche. Er hatte die Leiche gesehen! Die Knie fest in den schwarzen Blähschlamm pressend, arbeitete er sich in den Tunnel hinein. Die Pilze ringsum schienen immer weiter anzuschwellen, alle Geräusche zu dämpfen und ihn von der Außenwelt abzuschotten. Ihre aufgequollene Blässe deutete auf verwesendes Fleisch hin, ohne es jedoch preiszugeben. William überkam Übelkeit, dann Verwirrung und plötzlich ein rasender Zorn. Mit ganzer Kraft schlug er mit seiner Laterne nach den bauschigen Pilzen, das Gehäuse löste dicke Klumpen von schwammigem Fleisch. Derart um sich schlagend, bahnte er sich eine Schneise in den niedrigen Tunnel. Dann plötzlich zersprang das Glas, und die Kerze erlosch. Vollkommene Dunkelheit umgab ihn. William schleuderte die zerbrochene Laterne fort. Die Leiche war hier. Er hatte sie gesehen. Er tauchte die Arme ins Wasser und fuhr mit den Fingern durch den Schlamm; Glasscherben schnitten ihm in die Hände. Der Schmerz beruhigte ihn ein wenig. Auf den Knien rutschend, tastete er sich weiter, riss an den fleischigen Wänden und ließ die Hände immer wieder durch den Schlick am Grunde des Kanals gleiten.
»Ich weiß, dass du hier bist!« Es war seine Stimme, aber sie kam wie aus weiter Ferne. »Ich weiß, dass du hier bist, du Mistkerl!«
Eine Hand legte sich auf seinen Mund und bog ihm den Kopf zurück. Einen Moment war William sicher, dass es die Hand des Toten war, und ein schrecklicher Schauder des Triumphs durchströmte ihn. Doch die Hand war warm und stank nach Fäkalien und Algen. Er bekam kaum Luft. Ein Schmerz durchzuckte ihn, als ihm die Arme auf den Rücken gedreht wurden. Er versuchte sich zu wehren, verlor jedoch das Gleichgewicht, gefangen in einem eisernen Griff. Seine Schreie waren noch immer nicht verstummt, doch klangen sie jetzt zerhackt, erstickt, zerrissen. Halb trug, halb zerrte man William auf dem Rücken durch das schmutzige Wasser. Mit einem letzten Aufbäumen stieß er mit dem Stiefel gegen die Tunnelwand, aus der sich ein paar Brocken lösten. Ein Arm legte sich ihm um den Hals und drückte ihm die Luftröhre ab. Jemand rief etwas. Die Dunkelheit nahm zu, dann plötzlich wurde sie von einem weißen Lichtstrahl durchschnitten. Stiefel scharrten auf Eisen. Jemand band ihm die Hände auf dem Rücken zusammen. Dann wurde William umstandslos nach oben befördert. Das Licht tat ihm in den Augen weh. Er schloss sie und spürte nur noch die schreckliche dunkle Eiseskälte, die ihn im Griff hatte und seine Gliedmaßen und seinen Kopf in krampfhafte Zuckungen versetzte.
»Raus mit ihm«, knurrte der Vorarbeiter.
Eine Decke wurde ihm um die Schultern gelegt. William spürte die kratzigen Haare auf den Wangen und roch den ranzigen Gestank. Dann wurde eine Tür aufgestoßen, und er wurde hineingeschubst. Licht bohrte sich durch seine geschlossenen Lider und überflutete ihn mit einer peinigenden Röte. Er kniff die Augen zusammen, während er, von hinten geschoben, auf dem unebenen Boden ein paar Schritte vorwärts taumelte. Als er die Augen einen Spalt weit öffnete, sah er nur ein Stück des feuchten Mauerwerks der Flower Lane und aus nächster Nähe das höhnisch grinsende Gesicht eines jungen Mannes, der an die Mauer gelehnt stand. Ein fröstelnder Schauder fegte durch Williams Knochen und durchbohrte die morschen Fasern mit scharfen Eisnadeln. Als William an ihm vorbeitorkelte, die Augen zu Boden gesenkt, pfiff der junge Mann genüsslich und mit sichtlichem Vergnügen durch die Zähne.
»Wie ich gesagt habe«, flüsterte er William schadenfroh ins Ohr. »Ein echter Masochist.«
William kniff die Augen zusammen, aber es war zu spät. Es gab keinen Ausweg mehr. Angst, Schwärze und Kälte vereinigten sich in seiner Magengrube zu einem wirbelnden Strudel, und im Mittelpunkt dieses Strudels stand die hämisch grinsende Fratze des jungen Mannes. Es gab keinen Weg zurück. In der eisigen Dunkelheit war es nur eine schreckliche Ahnung, und doch wusste er Bescheid. Er hatte das Ende erreicht, und da, wo er gehofft hatte, Trost und Frieden zu finden, war nichts. Nichts als der eigene Schrecken, die furchtbare, unendliche Dunkelheit und die grinsende Teufelsfratze, die gekommen war, ihn zu holen. Erst sehr viel später war er in der Lage, sich von außen zu sehen und die grässliche einfache Wahrheit zu erkennen. Man hatte ihn mit Gewalt aus den Abwasserkanälen geholt, einen Verrückten, gefesselt, zitternd und schmutzstarrend.
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