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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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verlieren.
Erledigt. Erledigt. Erledigt.
NUR DIE BEHERRSCHUNG NICHT VERLIEREN . In der Anstalt gab es keinen Spiegel, aber er wusste auch so, wie er den frisch gebügelt und gestriegelt daherkommenden Kriminalbeamten gegenübertrat, mit seinem schorfigen Gesicht, dem ungekämmten Haar und den nach hinten verdrehten Armen in der Zwangsjacke. Sie hatten ihn kostümiert wie einen Irren. Sie wollten ihn zu einem Irren machen. Die Angst jagte ihm ein Kribbeln über den ungewaschenen Schädel. Wenn er sich auch nur eine Sekunde lang gegen die Zwangsjacke wehrte, hätten sie den Beweis für seine Schuld. Aber er war unschuldig. Vor einem englischen Gericht galt ein Angeklagter so lange als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen war. Und bislang war er noch nicht einmal verhaftet. Es würde Fragen geben, aber William würde die Möglichkeit erhalten, darauf zu antworten. Diese Männer hegten keinen Groll gegen ihn persönlich. Sie suchten nach der Wahrheit. Er musste ruhig bleiben, nur dann sprechen, wenn er gefragt wurde, jede Frage sorgfältig durchdenken und höflich, ernst und ohne Umschweife antworten. Dann würden sie erkennen, dass er einer von ihnen war, ein Fachmann, ein Ehrenmann und ebenso wenig geistesgestört wie sie selbst. Die britische Verfassung schützte die Rechte jedes Bürgers, insbesondere die eines Mannes von Rang und gutem Ruf, eines respektablen Bürgers, der er bis vor kurzem gewesen war. Er musste nur Haltung bewahren, sich wie ein geistig gesunder Mann benehmen und die Wahrheit sagen. Dann würde ihm Gerechtigkeit widerfahren.
    Langsam, fast feierlich, nahmen die Polizisten Platz, der Inspektor in der Mitte. Er setzte seinen Hut ab und strich sich mit den Händen sanft über das drahtige graue Haar, als wäre es die Perücke eines Richters. Dann zog er seine Brille ein Stück weit nach unten und musterte William über die Gläser hinweg von oben bis unten. Eine ganze Weile starrte er ihn eindringlich an, um dann plötzlich, als besänne er sich, die Brille wieder ganz nach oben zu schieben und sich den Schriftstücken zuzuwenden, die vor ihm lagen. Mit missbilligend verkniffenem Mund und gesenktem Blick bedeutete er Peake, William zu seinem Stuhl zu bringen, der sich wegen der auf den Rücken gefesselten Arme mit der Vorderkante begnügen musste. Der Inspektor ordnete seine Schriftstücke und blickte auf.
    »Dann fangen wir mal an.«
    Der Polizeibeamte zu seiner Rechten beugte sich über sein Notizheft und leckte erwartungsvoll den Bleistift. William wartete gespannt auf die erste Frage. Durch das schmutzige Fenster konnte er ein Stück blassblauen Himmel sehen und einen Vogel, der sorglos durch die Lüfte schwebte. Ruhig, aufmerksam und höflich bleiben. Am Morgen hatte er so getan, als würde er sein Chloral schlucken, aber als Vickery gegangen war, hatte er den Kopf zur Seite gelegt und die Flüssigkeit aus seinem Mund in das Matratzenstroh rinnen lassen. Vielleicht hätte er es doch nehmen sollen, ging ihm plötzlich durch den Kopf. Vielleicht würde er dann nicht von diesem schrecklichen Hämmern in seinem Schädel gepeinigt. Er fuhr sich mit der Zunge nervös durch den trockenen Mund, die Hände hinter dem Rücken immer noch zu Fäusten geballt. Sein Magen war in Aufruhr. Ruhig, aufmerksam und höflich bleiben. Denk gründlich nach, bevor du etwas sagst. Sei vernünftig, überlegt und höflich. Verlier nicht die Beherrschung. Als sich der Inspektor vorbeugte, hob William in einer Geste williger Ehrerbietigkeit den Kopf. Doch der Inspektor stellte keine Frage, sondern flüsterte dem Polizisten zu seiner Linken etwas zu. Der Mann nickte und ging zur Tür.
    Es folgte eine Pause, in der Stimmengemurmel zu hören war, dann betrat Vickery den Raum, gefolgt von Pettit, dem Anstaltsarzt mit den dicken Augenbrauen. Sie würdigten William keines Blickes. Der Inspektor bedeutete ihnen, sich auf die beiden Stühle zu setzen, die man für sie neben dem Tisch bereitgestellt hatte. Die fünf Männer nickten einander zu. William beobachtete sie von seinem Platz auf der anderen Seite des Raums, und die Angst packte ihn an der Kehle. Sein Magen krampfte sich zusammen, sein Mut sank. In den Gesichtern all dieser Männer las er, in unterschiedlichem Maße, Strenge, Missbilligung und Abscheu, und im verkniffenen Mund des Polizisten mit dem Bleistift etwas wie Wollust, aber keiner der Männer an dem Tisch zeigte auch nur die leiseste Spur von Interesse an ihm.
    Während der ganzen Zusammenkunft ließ der Inspektor

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