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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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folgender: Der Mörder war tatsächlich ein Gentleman, und wie man hörte, sogar ein piekfeiner Kerl, denn er stammte aus einer vornehmen Familie. Einer aus den höheren Rängen des Parlaments oder so. Was für ein Jammer, seufzte Eddowes glücklich und schüttelte wieder den Kopf, und die anderen taten es ihm nach. Was für ein Jammer, wiederholten sie, wobei sie ihre Schadenfreude kaum verhehlen konnten.
    Als der Wirt ihnen nachgeschenkt hatte, fuhr Eddowes fort. Es stimme in der Tat, dieser Herr habe einen Brief geschrieben, der der Polizei übergeben wurde, aber er enthalte kein Geständnis, nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, der Mann streite alles ab. In dem Brief stehe nämlich – und hier legte Eddowes eine so großzügige Pause ein und schnalzte mehrmals bedächtig mit der Zunge, dass seine Zuhörer der festen Überzeugung waren, er wisse viel mehr, als er zu erzählen bereit war –, in dem Brief stehe, dass es jemand anderes gewesen sei und er, der Verrückte, kenne auch seinen Namen. Als die Männer nun wissen wollten, wen der Verrückte denn als Täter genannt habe, lächelte Eddowes geheimnisvoll wie die Sphinx und wiederholte nur, was er bereits erzählt hatte. Seiner Ansicht nach, und er war sich dessen sicher, da die Beamten, die sein Kaffeehaus besuchten, darüber mehr als einmal die Stirn gerunzelt und ungläubig gehüstelt hätten, hatte der Mörder sogar die Dreistigkeit besessen, in seinem Brief anzudeuten, er könne bei den Ermittlungen von Scotland Yard behilflich sein. Und warum? Weil er dabei gewesen sei. Natürlich behaupte er, nichts getan zu haben, niemanden auch nur angerührt zu haben. Er sei unschuldig wie das Jesuskind. Aber er sei dabei gewesen und habe alles gehört!
    »Was? Er hat gesagt, er wär dabei gewesen? Der Kerl muss ja vollkommen plemplem sein!«, meinte der Wirt und rollte die Augen.
    Eddowes sah ihn mit unverhohlenem Abscheu an. Er hatte nicht vor, sich die Schau stehlen zu lassen. Kopfschüttelnd wie ein Richter, der im Begriff ist, sein Urteil zu verkünden, steckte er sich ein weiteres Stück Leber in den Mund und kaute langsam, während er sich zufrieden den Bauch tätschelte.
    »Die Geschichte geht natürlich noch weiter. Vielleicht darf ich jetzt fortfahren«, meinte er schließlich und schob seinen Teller beiseite.
    Eilig stellte ihm der Wirt einen weiteren Krug hin – auf Kosten des Hauses – und entschuldigte sich für die Unterbrechung.
    »Also, weiter«, drängten die Zuhörer.
    Eddowes zögerte noch ein wenig, bis die Männer buchstäblich vor Neugier schäumten, dann fuhr er fort: Der feine Herr Mörder sei tatsächlich ein Irrer. Er sei in einer privaten Anstalt irgendwo im Westen der Stadt untergebracht.
    »Einer Anstalt? Dann sitzt er also nicht im Kittchen?«
    »Er ist abgehaun, stimmt’s? Er ist abgehaun, hab ich Recht?«
    Eddowes seufzte und schwieg. Ihm wurde ein Teller mit Stachelbeerkuchen gebracht, und um es ihm bequemer zu machen, schob man ihm einen Stuhl mit lederbezogenen Armlehnen heran. Tom rückte noch weiter vom Kamin weg, damit Eddowes in den vollen Genuss der Wärme kam. Schließlich ließ sich Eddowes herab weiterzuerzählen. Der Irre war erst ein paar Tage eingesperrt gewesen, als er den Brief schrieb. Nach Eddowes Ansicht war das Schreiben Beweis genug, dass er verrückt war, denn die Ärzte würden bestimmt keinen Brief rauslassen, ohne ihn gelesen zu haben. So lauteten die Vorschriften. Natürlich hatten sie den Brief gleich der Polizei übergeben. Danach war der Fall ziemlich klar. Wie sich herausstellte, war der Mann verrückter als ein ganzer Hühnerstall. Denn nachdem sie entdeckt hatten, dass er seit Jahren mit dem Toten verfeindet war, was brauchten sie da noch an Beweisen? Er hatte schon monatelang im Parlament sein Unwesen getrieben, hatte die Beamten terrorisiert und all den anderen feinen Herren das Leben zur Hölle gemacht. Es hatte Bestechungen gegeben, unsaubere Geschäfte, Drohungen, all das. Der Tote war nicht der Einzige, der darin verwickelt war, er war nur derjenige, dem es das Genick gebrochen hatte. Buchstäblich. Eddowes kicherte über seinen eigenen Witz, bevor er fortfuhr. Der Verrückte hatte einen hinterhältigen Plan ausgeheckt und sein Opfer in die Abwasserkanäle gelockt, wo er ihm in der Annahme, dass die Leiche niemals gefunden würde, die Kehle durchschnitt. Als man ihn verhaftete, war er über und über mit Schnittwunden bedeckt, Beweis für einen Kampf. Man nahm an, dass dies nicht sein

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