Der Vermesser (German Edition)
weshalb Rose in die Abwasserkanäle wolle, interessiere ihn nicht, gab er scharf zurück. Er habe es ihm schon einmal gesagt und wiederhole es gern: Ohne offizielle Erlaubnis könne niemand die Tunnel betreten. Für ihn sei die Sache damit erledigt. Und jetzt müsse er wieder an die Arbeit. Damit griff er nach einer Laterne und machte sich an der Blende zu schaffen.
»Werden Sie hingehen?«, fragte Rose unvermittelt. »Um zuzuschauen, meine ich. Wenn er gehängt wird.«
Der Vorarbeiter verzog verlegen das Gesicht. »Weiß nicht. Vielleicht. Hab noch nicht drüber nachgedacht.«
»Aber Sie kannten ihn?«
»Klar«, erwiderte der Vorarbeiter.
»Und was hatten Sie für einen Eindruck von ihm?«
Der Vorarbeiter zuckte die Achseln. »Weiß nicht. War von der schweigsamen Sorte. Höflich.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Blieb immer für sich. Hat sich in den Tunneln wohl gefühlt wie ’ne Ratte. Manchmal war’s ’n richtiger Kampf, ihn wieder rauszukriegen, so hat er sich da eingenistet. Hätt nie geglaubt, dass er zu so was fähig ist, wenn ich’s nicht mit eigenen Augen gesehn hätt, wie er da völlig aus dem Häuschen war und um sich geschlagen hat wie …« Er sah Rose an, der ihm ermunternd zunickte. Doch plötzlich verstummte der Vorarbeiter. Rose wartete, aber der Mann sagte nichts mehr, sondern fixierte nur die Laterne auf seinem Schoß.
»Er meint, da unten ist etwas versteckt«, sagte Rose schließlich sehr leise. »Ein Beweisstück, das ihn entlastet. Wenn man es nur finden würde.«
Der Vorarbeiter blieb stumm.
»Es wäre schrecklich, wenn sie den Falschen hängen würden«, murmelte Rose. Die Worte senkten sich sachte wie Staub herab. Ganz langsam begann er seine Sachen zusammenzusuchen, setzte sich den Hut auf, zog die Handschuhe an und griff nach seinem Regenschirm.
Der Vorarbeiter nagte an den Lippen, die Laterne vor sich auf den Knien.
»Trotzdem, Vorschrift ist Vorschrift«, murmelte Rose wie zu sich selbst. »Vorschrift ist Vorschrift.« Er lüpfte zum Abschied den Hut, nahm seine Aktenmappe mit den Dokumenten und schritt zur Tür.
»Ich kenn einen, der könnt’s machen.« Die Stimme des Vorarbeiters klang barsch. »Natürlich nur gegen Bezahlung.«
»Wo finde ich ihn?«
Der Vorarbeiter nannte eine Taverne in einer der Straßen nördlich des Regent Circus.
»Fragen Sie einfach. Alle kennen ihn.«
»Und wie heißt er?«
Der Vorarbeiter zuckte die Achseln. »Man nennt ihn nur den Langarmigen Tom.«
Am Ende der Gasse in St. Giles blieb der Junge stehen und wies mit seiner schmutzigen Hand in eine Richtung. Er könne ihn nicht weiter begleiten, aber wenn Rose nach links abböge und dann stracks nach rechts, käme er direkt zum East Court. Dann verschwand der Junge. Obwohl es noch längst nicht dunkel war, herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Rose begegnete keiner Menschenseele, als er durch die aufgeweichten Straßen stapfte, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Eine so elende Gegend hatte er noch nie gesehen. Die Gasse war kaum mehr als eine Furche zwischen den Häusern, erfüllt vom widerwärtigen Geruch nach Schmutz und Exkrementen. Die Häuser waren baufällig, die zerbrochenen Fensterscheiben mit Stofffetzen und Papier notdürftig geflickt, die zersplitterten Haustüren hingen schief in den Angeln. Farblose Lumpen baumelten an Wäscheleinen über seinem Kopf und verdeckten das bisschen Himmel zwischen den Häusern. Die Straße war knöcheltief mit Abfall und verrottendem Gemüse übersät und voller Pfützen. Mehr als einmal stolperte Rose über einen Müllhaufen und musste husten, als ein erstickender Geruch daraus hochstieg. In den Abwasserkanälen konnte es nicht schlimmer sein. Die ärmlichen Häuser schienen sich Bettlern gleich über ihn zu beugen, und ihre stinkenden Ausdünstungen brannten ihm heiß im Nacken. Nirgendwo ein Mensch, nur düstere Torwege und niedrige Bogengänge mit bedrohlich lauernden Schatten. Rose schluckte, den Blick starr geradeaus gerichtet, trotzdem sah er links und rechts Augen aufblitzen, ein Messer oder eine Würgschraube blinken. Er beschleunigte seinen Schritt. Ihm war übel, und sein Speichel schmeckte bitter. Reiner Wahnsinn, sich allein und schutzlos hierher zu wagen. Das hatte ihm auch der Wirt des Black Badger zu verstehen gegeben, als er ihm seinen Gehilfen als Begleiter anbot. Er wolle nicht, dass er sein Ziel verfehle, hatte er gesagt und dabei den Kopf geschüttelt, während er Roses gebügelten Anzug und seine
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