Der Vermesser (German Edition)
Jüngsten, zwei Mädchen mit dem leuchtend roten Haar ihres Vaters, die Ärmchen um seinen Hals schlangen und sein großes, mit Sommersprossen übersätes Gesicht mit Küssen bedeckten – da hatte es ihm zum ersten und einzigen Mal einen schmerzhaften Stich versetzt.
Sie waren jetzt natürlich alle groß, die Jüngste mindestens neun. Insgesamt elf Kinder, nicht mitgezählt diejenigen, die gestorben waren, Gott hab sie selig. Zwei Söhne arbeiteten bereits als Träger, von einem weiteren hatte man schon fast zehn Jahre lang kein Sterbenswörtchen mehr gehört. Manchmal nahmen sie Alfred und Jem, Joes fünftes beziehungsweise achtes Kind, mit hinunter in die Abwasserkanäle, wenn Not am Mann war. Joe hatte gehofft, einmal so etwas wie ein Geschäft an einen seiner Söhne vererben zu können, doch das schien inzwischen nicht mehr wahrscheinlich. Die Zeiten änderten sich schnell und keineswegs zum Besseren. An den Docks, wo Alf auf Arbeit für vier Pence die Stunde wartete und die Auftraggeber keine Fragen stellten, boten ganze Scharen von Männern jeglichen Gewerbes ihre Dienste an. Wie Kinder aufs Mittagessen warteten sie auf die einlaufenden Schiffe, hofften auf Glück und darauf, nicht hungrig zu Bett gehen zu müssen.
Die Nacht war klar, und über den tiefschwarzen Himmel zogen die Sterne wie Aschestaub. Tom spürte eine innere Unruhe, die ihn keinen Schlaf würde finden lassen. Langsam und ohne so recht darauf zu achten, wohin er lief, wanderte er zurück Richtung Soho. In seinem Kopf wirbelten Erinnerungen durcheinander, und erst eine Weile später merkte er erschrocken, dass er vor dem Torbogen zur Hawker Lane stand. Hinter ihm auf der Broad Street glänzte und funkelte das Golden Hind, dessen Glastüren einladend offen standen. In Toms versteckter Jackentasche klimperten Münzen. Vor ihm schlug ein zerlumpter Junge mit einem blauen Auge ein Rad und verlangte ein paar Pennys für seine Darbietung. Ein Fuß steckte in einem alten Schuh, dessen Oberseite, über dem Spann aufgerissen, von einem schmutzigen Band zusammengehalten wurde, der andere in einem alten Damenstiefel. Ohne seine Bettelei weiter zu beachten, tauchte Tom ins Gassendunkel ein und steuerte auf das Black Badger zu.
Es war lange her, dass er sich einen Kampf angesehen hatte, doch seit damals, als er regelmäßig hierher gekommen war, hatte sich nichts verändert. An der langen Theke im Erdgeschoss saßen dicht gedrängt Männer aller Art, die rauchten, tranken und über Hunde debattierten. Auf Tischen und Bänken wurden Hunde vorgeführt, damit diejenigen, die Wetten abschließen wollten, sie begutachten, ihre Pfoten betasten, ihnen in die Augen und ins Maul sehen konnten. Ein Omnibusfahrer, den runden Hut schief auf dem Kopf, schlug mit der Faust auf einen wackeligen Tisch und funkelte einen Straßenhändler mit plüschigem Käppchen und grüner, senfgelb geblümter Halsbinde böse an. Auf den Knöpfen des sandfarbenen Kordwamses, das der Straßenhändler trug, prangte ein Fuchskopf, und unterm Arm hielt er einen Skyeterrier, der wie ein Fisch zappelte. Zwei Kutscher in vornehmer Livree standen an den Tresen gelehnt und suchten möglichst unauffällig den Schankkellner auszuhorchen, auf welche Hunde der Wirt an diesem Abend wohl setzen würde. Dabei ließen sie sich auch von einer Gruppe Soldaten nicht beirren, deren Augen so rot waren wie ihre ungepflegten, aufgeknöpften Uniformröcke. Im Schankraum drängten sich Krämer und Eisenhändler, die sich einen Gehrock über ihre Arbeitskleidung gestreift hatten, Matrosen mit roten Mützen, graugesichtige Müllmänner und hohläugige Schneider. Tom stieß mit einem alten Mann in einem geflickten Rock zusammen, wie ihn Bauern trugen, nur dass sein ungekämmtes Haar rußverschmiert war. Er habe, so erzählte er Tom, an diesem Vormittag seinen Mantel für zwei Shilling verkauft. Wenn die Hunde und die Götter ihm gewogen wären, würde er sich morgen einen besseren besorgen.
Im ersten Kampf ging es um die goldene Uhr, wobei sich Brassey darüber ausschwieg, ob er sie beim Pfandleiher hatte auslösen müssen. Sie war die Siegprämie für denjenigen Hund, der am schnellsten fünfzehn Ratten totbiss. Die Männer tauschten sich flüsternd aus, befühlten mit derben Fingern die frischen Narben der Hunde und stellten mitunter nicht immer wohlmeinende Vergleiche mit gefeierten Siegerhunden an, die längst nicht mehr kämpften oder schon tot waren. Das wiederum empörte manche Hundebesitzer, deren
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