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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Bahngleise wuchsen. Auch für den kleinen William hatte er eine in Leinen gebundene Kladde besorgt sowie ein Sortiment von Farbstiften, damit sich sein Sohn zu ihm setzen und, die Zunge zwischen den Zähnen, ebenfalls an den gezackten Blüten und Blättern versuchen könnte. Ende September hatte William ein paar unbrauchbar gewordene Blätter Florpost mit nach Hause genommen und darauf zunächst zaghaft, dann aber mit wachsender Begeisterung begonnen, den Plan für einen Garten zu zeichnen. Natürlich würden sie darin Gemüse anpflanzen, aber das war nicht sein Hauptanliegen. Lieber beschäftigte er sich mit dem sonnigen südlichen Streifen des Hofs. Dort würden er und sein Sohn für Polly Blumen züchten. Für Polly und das Baby. Denn Polly war wieder guter Hoffnung. Nachts, wenn sie neben ihm schlief, legte William sanft die Hand auf die Schwellung ihres Bauchs und entwarf im Geist die Wiege, die er dem Baby zimmern wollte. Der kleine William hatte nie eine Wiege gehabt. In dem Findelheim in Battersea, so hatte ihm Polly erzählt, hatten die Säuglinge nebeneinander in Obstkisten gelegen wie Äpfel. Aber dieses Baby würde eine Wiege bekommen, eine Schaukelwiege mit einem Vorhang und einer kleinen Bettdecke, eine Wiege wie aus einem Märchen. Und wenn William nach Hause kam, würde die Wiege vor dem prasselnden Kaminfeuer stehen, und Polly würde lächeln und den Finger an die Lippen legen, weil in diesem Traum von Wiege das Baby schliefe, den winzigen rosa Mund zu einem winzigen rosa Lächeln verzogen. Und alles würde so sein, wie es sein sollte. Wie sie es sich erträumt hatten.
    Das Kaminfeuer im Zimmer der Vermesser war niedergebrannt, und ächzend fiel die Asche durch den Rost. Es war so kalt, dass sich Williams Hände an den Knöcheln blau gefärbt hatten. Er war mutterseelenallein. Hawkes gemeine Worte gingen ihm unablässig durch den Kopf, dunkle, ungreifbare Schatten, die ihn ganz irre machten. Er musste sich ihnen stellen, das wusste er, während er zitternd in seiner kalten Nische saß. Er musste sie zu fassen bekommen, sie seinem Willen unterwerfen, sonst würde er alles verlieren.
Sie werden alles verlieren.
Doch so eindringlich er sich diese schreckliche Beschwörungsformel auch immer wieder vorsagte, sie entglitt ihm, so dass er ihre Wahrheit nicht festhalten konnte. Sein Geist war fest versiegelt. Sein Herz zog sich zusammen, wurde hart wie eine Walnuss und weigerte sich, diese Wahrheit in sich eindringen zu lassen. William sah das und verfluchte sich für seine Schwäche. Er wusste bereits, dass er wie ein Unbeteiligter seinen unausweichlichen Untergang beobachten und nichts dagegen unternehmen würde. Nichts dabei empfinden würde. Er ballte die Fäuste und presste die Knöchel gegen die Oberschenkel, als die Schwärze ihn auszufüllen begann, langsam zuerst wie schwebende Rußpartikel und dann mit einer unaufhaltsamen Flut von solcher Heftigkeit, dass sie ihm die Organe in der Brust zerquetschte und ihm das Mark in den Knochen vergiftete. Sie presste sich ihm auf die Augen, bis nur noch Dunkelheit um ihn war, und erfüllte seinen Kopf mit einem unablässigen, gnadenlosen Kreischen. Er konnte nicht mehr atmen. Die Schwärze lähmte seine Lungen und schnürte ihm mit ihren sehnigen Tentakeln die Kehle zu. Auf seinem Schreibtisch lag ein Messer zum Aufschneiden von Zeitungen. Seine silberne Klinge blitzte, ein Streifen vollkommenen Lichts in blinder Dunkelheit. Das Messer war stumpf, auf einer Seite jedoch gezackt, so dass man nur fest genug andrücken und unbarmherzig sägen müsste …
    Danach war er, so vermutete er später, unzählige Stunden ziellos in der Stadt umhergeirrt. Ihn schmerzten die Füße, und die Hosenaufschläge waren voller Staub. Kurz vor Sonnenaufgang kehrte er in sein Haus in Lambeth zurück, um sich ein frisches Hemd überzuziehen. Die Ärmel des alten hingen in blutigen Fetzen herab. Er knüllte es zusammen und versteckte es in dem schmalen Wäscheschrank unter der Treppe. Polly und das Kind waren noch nicht wach. In der Küche goss er Wasser in eine Schüssel. Die zerfetzten Wunden an seinen Armen waren schmutzverkrustet und mit Baumwollfasern verklebt, aber seine Hände zitterten nicht, als er sich säuberte und verband, ehe er leise das Haus wieder verließ. Er fühlte sich ruhig und sehr klar.
    Es versprach ein weiterer schöner Tag zu werden. Die Sonne war eine frisch gewaschene Zitrone vor einem blassblauen Himmel, und braune Blätter schwebten wie schrumplige

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