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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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versucht, vernünftig mit Ihnen zu reden. Seit Monaten schon versuche ich, vernünftig mit Ihnen zu reden. Aber das war natürlich Zeitverschwendung. Denn wer kann hoffen, mit einem Geistesgestörten vernünftig zu reden? O ja, ich weiß alles über Sie. Haben Sie etwa geglaubt, man könnte Ihnen nichts anhaben, weil Rawlinson den Mund gehalten hat? Nun, es tut mir furchtbar leid, dass ich Sie enttäuschen muss. Sie merken, ich weiß alles. Alles. Sie haben im Krimkrieg den Verstand verloren, nicht wahr, Sie erbärmlicher Feigling? Sie dämlicher, geistesgestörter, blödsinnig glotzender Irrer. Verdammt sollen Sie sein, Sie Wahnsinniger, man sollte Sie einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Sie glauben wohl, ich weiß nicht, was Sie dort unten in den Kanälen treiben, wenn Sie meinen allein zu sein? Sie sind eine Missgeburt, May, ein Fehlgriff der Natur. Hören Sie? Sie widern mich an. Sie widern jeden vernünftigen, gottesfürchtigen Christen an. Die Vertreter der Baubehörde zum Beispiel. Was, meinen Sie, würden die denken, wenn sie von Ihren Perversionen wüssten? Glauben Sie tatsächlich, dass Sie dann hier weiterarbeiten könnten? Ja?«
    Hawkes Gesicht war so nah, dass William die dunkel glänzenden Pünktchen seiner Poren erkennen konnte, die wie Nadelstiche aussahen. William verschränkte die Hände. Er sagte nichts. Er fühlte sich bleich, kalt und substanzlos wie Rauch. Mit einem Ruck wich Hawke wieder zurück. Seine Stimme war jetzt schneidend scharf.
    »Morgen werden Sie Alfred England aufsuchen. Sie werden ihn in allen Einzelheiten darüber unterrichten, welche technischen Verbesserungen er in seinen Fabriken hier in London vorzunehmen hat, um den von Mr. Bazalgette so hoch geschätzten Backstein herzustellen. Und Sie täten gut daran, dafür zu sorgen, dass alles zu Ihrer Zufriedenheit ausgeführt wird, denn wenn die Ausschreibung stattfindet, werden Sie persönlich die Qualität von Englands Produkten bestätigen. Sie werden nicht das Angebot von Strowbridge befürworten. Sollten Sie das tun, werde ich mich gezwungen sehen, der Baubehörde alles mitzuteilen, was ich weiß. Wirklich alles. Und danach – nun, es ist wohl kaum zu erwarten, dass die Behörde Sie dann weiterhin beschäftigt. Oder Ihnen irgendeine andere respektable Tätigkeit anbietet. Das wäre völlig undenkbar, meinen Sie nicht auch? Es besteht wenig Hoffnung für die Zukunft eines Mannes, dessen Charakter so schweren Schaden genommen hat. Sie werden alles verlieren.«
    Mit grimmigem Hohn verzog Hawke den Mund und wischte sich imaginäre Stäubchen von den Ärmeln. William starrte ihn an, das Gesicht aschfarben. Worte wirbelten ihm durch den Kopf und verschwanden wieder, ohne dass seine Zunge, seine Lippen sie erkannt hätten.
    »Ich denke, unsere Unterredung ist damit beendet. Aber ich möchte Ihnen noch versichern, dass ich zu meinem Wort stehe.« Hawke konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. »Es wäre nicht ratsam, mich auf die Probe zu stellen. Guten Tag, Sir.«
    William konnte sich nicht erinnern, wie er wieder zu seiner Arbeitsnische gekommen war, und auch nicht an die Stunden, in denen er wie gelähmt dagesessen und auf die Wand gestarrt hatte. Mechanisch glitten seine Finger Zahlenkolonnen entlang und über Schnittzeichnungen hinweg, aber seine Bleistiftnotizen verschwammen ihm vor den Augen, und er wusste nicht mehr, was sie bedeuteten. Angst und Selbsthass gärten in ihm wie Hefe in einem Teig, breiteten sich in ihm aus, bis er kaum noch atmen konnte. Er hatte sich fast in Sicherheit geglaubt. Seit Wochen hatte er sich nicht mehr geschnitten. Der Oktober war beinahe vorüber. Es war ein trockener Herbst gewesen. Der unaufhörliche Verkehr hatte das herabgefallene Laub zu kupferfarbenem Staub zermahlen, und am frühen Nachmittag ergoss sich das Sonnenlicht wie geschmolzene Butter über die rußige Hintertreppe in Lambeth. Doch William bekam kaum etwas davon mit. Jetzt, da Bazalgettes großes Projekt umgesetzt wurde, herrschte in den Büros in der Greek Street lebhaftes Treiben. Jeden Tag gab es Anfragen zu beantworten, Berechnungen zu erstellen und Verträge zu schließen. Häufig saß William schon vor sieben Uhr morgens an seinem Schreibtisch und kehrte erst spätabends nach Hause zurück. Und er hatte wieder angefangen, sonntags zu zeichnen. Dafür hatte er sich ein in weiches Gerbleder gebundenes Skizzenbuch gekauft, in dem er mit Tinte und Wasserfarben die Blumen festhalten wollte, die im Gestrüpp entlang der

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