Der Vermesser (German Edition)
jemanden so entsetzlich zuzurichten, musste man fünfzehn-, zwanzigmal zustechen. Tom ließ die Hand über den zertrümmerten Brustkorb gleiten in der Hoffnung, vielleicht eine Uhr zu finden, aber er ertastete nur kaltes, glibbriges Fleisch. Auf eins hatte der Captain besonderen Wert gelegt. Er hatte wissen wollen, ob Tom lesen könne, und als dieser antwortete, in seinem Gewerbe sei das bisher nicht erforderlich gewesen, hatte er nur genickt und gesagt, er solle ihm sicherheitshalber alles bringen, was nach einem Brief oder Schriftstück aussah, auch wenn es nur Gekritzel sei. Nicht, dass er etwas Besonderes zu finden hoffe, fuhr der Captain leichthin fort, es wäre nur ein Beweis dafür, dass Tom alles Notwendige erledigt hätte. Abgesehen davon könne Tom jedoch alles behalten, was er finde. Das war einer der Gründe, weshalb Tom sich auf den Handel eingelassen hatte, obwohl ihm die Belohnung alles andere als großzügig erschien. Außerdem hielt er es für wichtig, mit dem Captain im Geschäft zu bleiben. In ein, zwei Wochen würde der Kampf stattfinden, und je enger die Interessen zweier Männer miteinander verknüpft waren, desto stärker das beiderseitige Vertrauen. Diese Lektion hatte Tom schon früh gelernt.
Tom wischte sich mit damenhafter Geziertheit die Hände an den Haaren des Toten ab, bevor er ein Büschel packte und den Kopf hochhob. Das Gesicht des Mannes war kalt und gelb wie erstarrtes Wachs, bis auf einen Blutspritzer unter einem Auge. Wie ein Hundemaul hatten sich die Winkel der blutleeren Lippen unter den protzigen schwarzen Backenbart zurückgezogen. Die bleichen, weit aufgerissenen Augen quollen, wie Tom fand, mehr in einem Ausdruck des Erstaunens als des Erschreckens aus ihren Höhlen. Armes Schwein, dachte Tom und ließ den Kopf wieder ins Wasser plumpsen. Mit einem dumpfen Knall schlug der Schädel auf der Backsteinmauer auf, dabei krachte etwas im Nacken und zersprang, und der Kopf glitt ein Stück tiefer in das kalte Wasser. Auf der glatten gelben Stirn sammelte sich von der Strömung aufgewirbelter brauner Schaum.
»Man sollte meinen, dass ein so vornehmer Herr mehr auf sein Äußeres achtet, findest du nicht?«, murmelte Tom trocken und setzte Lady auf dem Sims ab, den die Beine des Toten bildeten.
Sein geübter Blick glitt über die Leiche. Wertvollen Schmuck würde er bei dem da kaum finden, schade. Keine Ringe, keine Nadel in dem, was von seiner Halsbinde übrig war. Aber immerhin Manschettenknöpfe. Gute Stiefel, wenn auch an den Sohlen schon etwas abgelaufen. Lady beschnupperte vorsichtig den Schoß des Toten, während Tom dem Mann die Stiefel auszog, das Wasser herauslaufen ließ und sie mit der Spitze voran in seine Jackentaschen stopfte. Der Saum des aufgeknöpften Mantels schwamm im Wasser. Tom durchstöberte die Taschen. Papiere – keine Banknoten, dafür waren sie zu dick – mit Siegeln darauf und was sonst noch. Ein paar Briefe. Handschuhe, ein Taschentuch mit verschnörkelten blauen Initialen. Ein Notizbuch mit ähnlicher Goldprägung. Tom schlug es auf. Weitere Schriftstücke und Briefmarken, und hintendrin ein Fünf-Shilling-Schein. Jeder Matrose trug mehr mit sich herum. Keine Schnupftabakdose und auch sonst nichts Brauchbares. Tom konnte sich eines gewissen Zorns nicht erwehren.
Die steigende Flut umspülte seine Hüften. Es war Zeit zum Aufbruch. Er befühlte den Mantelstoff. Den Mantel musste er unbedingt noch mitnehmen. Die Arme des Toten fingen schon an, steif zu werden, was die Sache schwieriger machte, als Tom gedacht hatte. Und den Mantel unter dem bleischweren Körper des Toten hervorzuziehen war auch nicht gerade einfach. Doch Tom machte so etwas ja nicht zum ersten Mal. Als er den Mantel in der Hand hielt, begutachtete er ihn im Schein der Laterne. Alles in allem war er nicht schlecht in Schuss, lediglich die Tasche war zerrissen, und ein Knopf fehlte. Er ließ die Hand in die Hosentasche des Toten gleiten. Eine Lederbörse ohne Prägung. Tom öffnete sie. Ein paar Münzen, kaum mehr als ein Shilling. Tom fluchte vor sich hin. Wenn die Flut ihm nicht geholfen hätte, hätte sich die Sache für ihn überhaupt nicht gelohnt. So wie’s aussah, war es die ganze Mühe nicht wert. Immerhin, die Hose schien ganz passabel, wenn auch nicht so gut wie der Mantel. Wenn sie gewaschen war, würde er beim Juden in der Rosemary Lane ein bisschen was dafür bekommen. Hastig fummelte er an den Knöpfen und hob Lady hoch, damit er dem Toten die Hose abstreifen konnte.
Weitere Kostenlose Bücher