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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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byzantinischen Stil entworfen, eine kreuzförmige Backsteinkonstruktion, gekrönt von einer imposanten Kuppel und flankiert von zwei mächtigen Schornsteinen, jeder mehr als sechzig Meter hoch. Die Wände sollten in einem dekorativen Muster aus drei Backsteinarten unterschiedlicher Tönung gemauert und die Wölbungen mit aus Stein gemeißeltem Früchte- und Blumendekor verziert werden. Die achteckige Konstruktion des Innenraums wurde getragen von gusseisernen, mit Kapitellen gekrönten Säulen und einer aufwendig gestalteten schmiedeeisernen Galerie.
    Auch William war sich zwar durchaus bewusst, dass dies eine prachtvolle Anlage werden würde, aber anders als seine Kollegen war er für deren Zauber unempfänglich. Er konzentrierte sich ganz auf die logistische Herausforderung. Zahlreiche Berechnungen waren erforderlich. Damit das Abwasser effizient hochgepumpt werden konnte, mussten die Dampfmotoren direkt oberhalb des Kanalnetzes angebracht werden, was angesichts des Gewichts allein der Schwungräder von jeweils mehr als fünfzig Tonnen eine besondere Schwierigkeit darstellte. William machte sich mit verbissener Entschlossenheit, aber ohne freudigen Eifer ans Werk, so als wären die Dampfmotoren eine Besatzungsarmee, die ihn gefangen genommen und versklavt hatte. Dennoch boten ihm die systematischen Zahlenreihen, welche vor ihm auf dem Tisch die Seite füllten, einen gewissen Trost. In seiner Schreibnische war er in Sicherheit. Draußen auf der Straße, wo ihm keine Zahlenreihen Halt boten, fühlte er sich oft verloren und orientierungslos. Die Wunde an seinem Bein war schlecht verheilt, und auf den zerfurchten Straßen konnte er sich nur humpelnd und unsicher bewegen. Der dicke Winternebel bereitete ihm panische Angst. Aus der Dunkelheit tauchten Gesichter auf wie die Geister Ermordeter. Einmal geriet er vor einen Omnibus und wäre überfahren worden, wenn ihn nicht ein aufmerksamer Straßenfeger am Ärmel gepackt und zurückgezogen hätte. Beim italienischen Scherenschleifer in der Broad Street hatte sich William ein Messer zum Ausnehmen von Fischen gekauft und es in einer abgeschlossenen Schublade seines Schreibtischs versteckt. Die Schnitte waren zwar nicht tief, kaum mehr als Kratzer, aber sie zeichneten ein wildes Muster auf seine Haut, das er täglich weiter ausschmückte.
    Seine neuen Kollegen, die sich in der Hierarchie der Baubehörde für etwas Besseres hielten als die Tunnelinspekteure, kümmerten sich nicht weiter um ihn. Sie aßen gewöhnlich gemeinsam in einem Kaffeehaus in der Dean Street zu Mittag, doch nachdem William ihre erste halbherzige Einladung, sich ihnen anzuschließen, abgelehnt hatte, fühlten sie sich nicht länger verpflichtet, ihn erneut einzuladen. William verzehrte also allein seine Mittagsmahlzeit. Jeden Tag lenkte er dabei seine Erinnerung zu den Abwasserkanälen, die er an jenem schrecklichen Abend durchwandert hatte, und spürte den Geräuschen und Gerüchen nach in der Hoffnung, irgendeinen Aufschluss darüber zu erhalten, was dort geschehen war. Wenn er sich nur daran erinnern könnte, sagte er sich immer und immer wieder, dann war er nicht verrückt. Er würde Polly beweisen, dass er nicht verrückt war. Und so klammerte er sich an seine Erinnerungen wie ein Bergarbeiter an ein Seil, das ihn sicher aus der Dunkelheit herausführen soll. Seine botanischen Skizzenbücher trug er längst nicht mehr mit sich herum, ja er wusste kaum mehr, wo sie waren. Aber er hatte ein ledergebundenes Notizheft, in das er jeden Erinnerungsfetzen eintrug. Bald war eine halbe Seite in seiner gedrängten Handschrift gefüllt. Und ganz allmählich fügten sich die Teile zu einem Bild. Er beäugte es skeptisch und ungläubig, erregt und erschrocken zugleich.
    Und er erzählte niemandem davon. Es gab ja auch niemanden, mit dem er darüber hätte sprechen können. Sein Wunsch, Polly einzuweihen, war längst erloschen. Ihr Blick an jenem Abend, als sie ihn angeherrscht hatte, über den Mord unbedingt Stillschweigen zu bewahren, hatte ihn von ihr entfernt, und von dem Augenblick an war die Kluft zwischen ihnen immer größer geworden. Sie saßen zwar nebeneinander vor dem Küchenfeuer – sie den Kopf tief über ihre Näharbeit gebeugt, er mit leerem Blick über einem Buch auf seinem Schoß –, aber William war überzeugt, dass sie, selbst wenn er sich heiser schrie, keine Silbe verstehen würde. Er konnte nicht die kränkende Bitterkeit vergessen, mit der sie ihn angefahren hatte, ihr wutverzerrtes,

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