Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
bleiches Gesicht. Dieses Gesicht. Es hing wie ein Wintermond über der dunklen Nacht seiner Erinnerungen: die Augen zusammengepresst, die Nasenflügel gebläht und blutleer, Mund und Hals in Abscheu von ihm abgewandt, als wäre ihr schon sein bloßer Anblick unerträglich.
    Sie fand ihn abstoßend. William hatte es deutlich an ihren bleichen Gesichtszügen ablesen können. Er erregte ihren Ekel und machte ihr Angst. Seine Gebrechlichkeit empfand sie als verabscheuenswürdig, als eine feige und jämmerliche Unterwerfung unter einen Feind, den er mit ein wenig Schneid und Anstrengung leicht würde besiegen können. Doch gleichzeitig fürchtete sie seine Kraft, den schrecklichen Mut, der ihn dazu trieb, sich ein Messer ins eigene Fleisch zu stoßen. Sie sah ihn an und konnte es nicht ertragen, dass der Fels, auf den sie ihr Leben aufgebaut hatte, zu Sand zerfiel. Ihr Mann, der für sie Beständigkeit, Ernst und Weisheit verkörpert hatte, der um seiner Liebe willen das Gewicht seiner und ihrer Welt auf seine Schultern genommen hatte, damit sie durch das Leben tanzen und wirbeln konnte, ohne sich mit mehr belasten zu müssen als mit einer Blume hinter dem Ohr – dieser Mann hatte es zugelassen, dass er zerbrach. Und er würde sie mit sich reißen, das war der Lauf der Dinge. Es ging nicht nur und in erster Linie um Wohlstand oder um einen guten Charakter. Polly hatte sich an die Sicherheit gewöhnt, die Williams Einkommen ihr verschaffte, an die Behaglichkeit ihres kleinen Hauses, an den sozialen Rang, den man innehatte, wenn einem ein Mädchen für die niedrigeren Arbeiten zur Verfügung stand. Sie genoss dieses neue Ansehen. Aber aus eigener Erfahrung wusste sie sehr wohl um die Wechselfälle des Lebens und hätte sich damit abfinden können, dies alles wieder zu verlieren; sie hätte körperliche Arbeit ertragen, solange sie sich nur glücklich wähnte. Und ihr ganzes Leben lang hatte sie stets danach getrachtet, glücklich zu sein. Sie hatte geglaubt, es sei die einfachste, natürlichste Sache der Welt. Für Polly war es mit dem Glück genau das Gleiche wie mit der Tugendhaftigkeit. Es behielt immer die Oberhand. Es konnte auf die Probe gestellt werden wie im Märchen, wo Kinder ihre Ehrlichkeit unter Beweis stellen mussten; aber wie die Tugendhaftigkeit würde auch das Glück am Ende siegen, wenn diejenigen, die an dieses Glück glaubten, sich nur entschlossen genug von denen abwandten, die es in Gefahr brachten.
    Der Krimkrieg war eine solche Prüfung gewesen. Und Polly hatte gewartet und alles ertragen, bis die warmen Strahlen des Glücks und der Hoffnung die grauen Gespenster dieses Krieges vertrieben wie die Sonne den Morgennebel. Eine Zeit lang waren sie wieder glücklich gewesen. Aber jetzt infizierten sein Unglück und Elend wie ein giftiger schwarzer Pesthauch alles, was mit ihm in Berührung kam. Ihr Lachen vermochte diese Düsternis nicht zu erhellen. Ihre zärtlichen Küsse zerfielen zu Asche. Ihre aufmunternden Worte und ihr heiterer Gesang verhallten ungehört, der Fröhlichkeit und jeden Sinns beraubt. Diese Macht war zu stark für sie, zu grausam. Und so wurde ihr Lachen bitter, und die Züge um ihren Mund wurden hart, und ihre Lippen rundeten sich nicht mehr zu einem Kuss. Der Gesang blieb ihr in der Kehle stecken und drohte sie zu ersticken. In der Düsternis seines Unglücks verlor sie nicht nur ihren Mann aus dem Blick, sondern auch sich selbst.
    All dies entging William nicht, und er hielt es in seinem Notizheft fest. Täglich durchforstete er die Zeitungen nach einer Nachricht über die Geschehnisse jenes Abends. Doch er fand keine Meldung über eine Leiche, die man aus den Abwasserkanälen geborgen hatte, geschweige denn über einen Vermissten. Doch Williams Gewissheit wuchs. Er war nicht verrückt. Es war ein Mord geschehen. An jenem Abend war in den Tunneln jemand ermordet worden. Irgendwo in den unterirdischen Kanälen gab es eine Leiche. In seinem neuen Arbeitsbereich gab es keinen plausiblen Grund für ihn, die Abwasserkanäle aufzusuchen, aber er würde schon einen Vorwand finden. Zum Beispiel die Überprüfung von Messungen oder die Beschwerde eines Hausbesitzers, die Fundamente würden absinken. Am Rande hatte er noch immer mit dem Strowbridge-Vertrag zu tun. Eilig ließ er Donald Hood, einen der Lehrlinge, kommen und beauftragte ihn mit einer genauen Überprüfung des Tunnelabschnitts zwischen Regent Circus und den Seven Dials. Er verlangte einen schriftlichen Bericht bis Ende der

Weitere Kostenlose Bücher