Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
du hier bist!« Es war seine Stimme, aber sie
    kam wie aus weiter Ferne. »Ich weiß, dass du hier bist, du Mist-
    kerl!«
    Eine Hand legte sich auf seinen Mund und bog ihm den Kopf
    zurück. Einen Moment war William sicher, dass es die Hand des
    Toten war, und ein schrecklicher Schauder des Triumphs durch-
    strömte ihn. Doch die Hand war warm und stank nach Fäkalien
    und Algen. Er bekam kaum Luft. Ein Schmerz durchzuckte ihn,
    als ihm die Arme auf den Rücken gedreht wurden. Er versuchte
    sich zu wehren, verlor jedoch das Gleichgewicht, gefangen in
    einem eisernen Griff. Seine Schreie waren noch immer nicht
    verstummt, doch klangen sie jetzt zerhackt, erstickt, zerrissen.
    Halb trug, halb zerrte man William auf dem Rücken durch das
    schmutzige Wasser. Mit einem letzten Aufbäumen stieß er mit
    dem Stiefel gegen die Tunnelwand, aus der sich ein paar Brocken
    lösten. Ein Arm legte sich ihm um den Hals und drückte ihm die
    Luftröhre ab. Jemand rief etwas. Die Dunkelheit nahm zu, dann
    plötzlich wurde sie von einem weißen Lichtstrahl durchschnit-
    ten. Stiefel scharrten auf Eisen. Jemand band ihm die Hände auf
    dem Rücken zusammen. Dann wurde William umstandslos
    nach oben befördert. Das Licht tat ihm in den Augen weh. Er
    schloss sie und spürte nur noch die schreckliche dunkle Eises-
    kälte, die ihn im Griff hatte und seine Gliedmaßen und seinen
    Kopf in krampfhafte Zuckungen versetzte.
    »Raus mit ihm«, knurrte der Vorarbeiter.
    Eine Decke wurde ihm um die Schultern gelegt. William
    spürte die kratzigen Haare auf den Wangen und roch den ranzi-
    gen Gestank. Dann wurde eine Tür aufgestoßen, und er wurde
    hineingeschubst. Licht bohrte sich durch seine geschlossenen
    Lider und überflutete ihn mit einer peinigenden Röte. Er kniff
    die Augen zusammen, während er, von hinten geschoben, auf
    dem unebenen Boden ein paar Schritte vorwärts taumelte. Als er

    251
    die Augen einen Spalt weit öffnete, sah er nur ein Stück des
    feuchten Mauerwerks der Flower Lane und aus nächster Nähe
    das höhnisch grinsende Gesicht eines jungen Mannes, der an die
    Mauer gelehnt stand. Ein fröstelnder Schauder fegte durch Wil-
    liams Knochen und durchbohrte die morschen Fasern mit schar-
    fen Eisnadeln. Als William an ihm vorbeitorkelte, die Augen zu
    Boden gesenkt, pfiff der u
    j nge Mann genüsslich und mit sicht-
    lichem Vergnügen durch die Zähne.
    »Wie ich gesagt habe«, flüsterte er William schadenfroh ins
    Ohr. »Ein echter Masochist.«
    William kniff die Augen zusammen, aber es war zu spät. Es
    gab keinen Ausweg mehr. Angst, Schwärze und Kälte vereinig-
    ten sich in seiner Magengrube zu einem wirbelnden Strudel,
    und im Mittelpunkt dieses Strudels stand die hämisch grinsende
    Fratze des jungen Mannes. Es gab keinen Weg zurück. In der
    eisigen Dunkelheit war es nur eine schreckliche Ahnung, und
    doch wusste er Bescheid. Er hatte das Ende erreicht, und da, wo
    er gehofft hatte, Trost und Frieden zu finden, war nichts. Nichts
    als der eigene Schrecken, die furchtbare, unendliche Dunkelheit
    und die grinsende Teufelsfratze, die gekommen war, ihn zu ho-
    len. Erst sehr viel später war er in der Lage, sich von außen zu
    sehen und die grässliche einfache Wahrheit zu erkennen. Man
    hatte ihn mit Gewalt aus den Abwasserkanälen geholt, einen
    Verrückten, gefesselt, zitternd und schmutzstarrend. Und Spratt
    war Zeuge dieses Schauspiels gewesen.

    252

XVIII

    A m folgenden Samstag brach Tom bereits früh zum Badger auf,
    obwohl er den Captain eigentlich hatte warten lassen wollen. Als
    Begleitung nahm er Joe mit. Unterwegs vermeinte er in jedem
    Schatten und hinter jedem verfallenen Torbogen ihr rosafarbe-
    nes Gesicht zu sehen, das ihn anlächelte. Natürlich würde sie bei
    seinem Anblick vor freudiger Erregung zittern, der ganze rosa-
    farbene Rumpf würde beben, während sie mit dem abgenagten
    Schwanzstummel wedeln, die Schnauze schräg legen und in
    seine Hand schmiegen würde. Plötzlich spürte er einen Stich in
    der Seite, so scharf, dass er einen Augenblick stehen bleiben und
    sich, vornübergebeugt, mit den Händen auf die Oberschenkel
    stützen musste.
    Als es vorbei war und er sich wieder aufrichtete, schüttelte er
    heftig den Kopf, um die Gedanken an sie zu verscheuchen. Alles
    nur Hirngespinste, was sonst. Denn der Captain würde sie wohl
    gar nicht mitbringen, es sei denn, er wollte sie zum Kampf an-
    treten lassen. Er würde sie schonen. Vermutlich lag sie gerade
    wohlig in einer piekfeinen

Weitere Kostenlose Bücher