Der Vermesser
du hier bist!« Es war seine Stimme, aber sie
kam wie aus weiter Ferne. »Ich weiß, dass du hier bist, du Mist-
kerl!«
Eine Hand legte sich auf seinen Mund und bog ihm den Kopf
zurück. Einen Moment war William sicher, dass es die Hand des
Toten war, und ein schrecklicher Schauder des Triumphs durch-
strömte ihn. Doch die Hand war warm und stank nach Fäkalien
und Algen. Er bekam kaum Luft. Ein Schmerz durchzuckte ihn,
als ihm die Arme auf den Rücken gedreht wurden. Er versuchte
sich zu wehren, verlor jedoch das Gleichgewicht, gefangen in
einem eisernen Griff. Seine Schreie waren noch immer nicht
verstummt, doch klangen sie jetzt zerhackt, erstickt, zerrissen.
Halb trug, halb zerrte man William auf dem Rücken durch das
schmutzige Wasser. Mit einem letzten Aufbäumen stieß er mit
dem Stiefel gegen die Tunnelwand, aus der sich ein paar Brocken
lösten. Ein Arm legte sich ihm um den Hals und drückte ihm die
Luftröhre ab. Jemand rief etwas. Die Dunkelheit nahm zu, dann
plötzlich wurde sie von einem weißen Lichtstrahl durchschnit-
ten. Stiefel scharrten auf Eisen. Jemand band ihm die Hände auf
dem Rücken zusammen. Dann wurde William umstandslos
nach oben befördert. Das Licht tat ihm in den Augen weh. Er
schloss sie und spürte nur noch die schreckliche dunkle Eises-
kälte, die ihn im Griff hatte und seine Gliedmaßen und seinen
Kopf in krampfhafte Zuckungen versetzte.
»Raus mit ihm«, knurrte der Vorarbeiter.
Eine Decke wurde ihm um die Schultern gelegt. William
spürte die kratzigen Haare auf den Wangen und roch den ranzi-
gen Gestank. Dann wurde eine Tür aufgestoßen, und er wurde
hineingeschubst. Licht bohrte sich durch seine geschlossenen
Lider und überflutete ihn mit einer peinigenden Röte. Er kniff
die Augen zusammen, während er, von hinten geschoben, auf
dem unebenen Boden ein paar Schritte vorwärts taumelte. Als er
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die Augen einen Spalt weit öffnete, sah er nur ein Stück des
feuchten Mauerwerks der Flower Lane und aus nächster Nähe
das höhnisch grinsende Gesicht eines jungen Mannes, der an die
Mauer gelehnt stand. Ein fröstelnder Schauder fegte durch Wil-
liams Knochen und durchbohrte die morschen Fasern mit schar-
fen Eisnadeln. Als William an ihm vorbeitorkelte, die Augen zu
Boden gesenkt, pfiff der u
j nge Mann genüsslich und mit sicht-
lichem Vergnügen durch die Zähne.
»Wie ich gesagt habe«, flüsterte er William schadenfroh ins
Ohr. »Ein echter Masochist.«
William kniff die Augen zusammen, aber es war zu spät. Es
gab keinen Ausweg mehr. Angst, Schwärze und Kälte vereinig-
ten sich in seiner Magengrube zu einem wirbelnden Strudel,
und im Mittelpunkt dieses Strudels stand die hämisch grinsende
Fratze des jungen Mannes. Es gab keinen Weg zurück. In der
eisigen Dunkelheit war es nur eine schreckliche Ahnung, und
doch wusste er Bescheid. Er hatte das Ende erreicht, und da, wo
er gehofft hatte, Trost und Frieden zu finden, war nichts. Nichts
als der eigene Schrecken, die furchtbare, unendliche Dunkelheit
und die grinsende Teufelsfratze, die gekommen war, ihn zu ho-
len. Erst sehr viel später war er in der Lage, sich von außen zu
sehen und die grässliche einfache Wahrheit zu erkennen. Man
hatte ihn mit Gewalt aus den Abwasserkanälen geholt, einen
Verrückten, gefesselt, zitternd und schmutzstarrend. Und Spratt
war Zeuge dieses Schauspiels gewesen.
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XVIII
A m folgenden Samstag brach Tom bereits früh zum Badger auf,
obwohl er den Captain eigentlich hatte warten lassen wollen. Als
Begleitung nahm er Joe mit. Unterwegs vermeinte er in jedem
Schatten und hinter jedem verfallenen Torbogen ihr rosafarbe-
nes Gesicht zu sehen, das ihn anlächelte. Natürlich würde sie bei
seinem Anblick vor freudiger Erregung zittern, der ganze rosa-
farbene Rumpf würde beben, während sie mit dem abgenagten
Schwanzstummel wedeln, die Schnauze schräg legen und in
seine Hand schmiegen würde. Plötzlich spürte er einen Stich in
der Seite, so scharf, dass er einen Augenblick stehen bleiben und
sich, vornübergebeugt, mit den Händen auf die Oberschenkel
stützen musste.
Als es vorbei war und er sich wieder aufrichtete, schüttelte er
heftig den Kopf, um die Gedanken an sie zu verscheuchen. Alles
nur Hirngespinste, was sonst. Denn der Captain würde sie wohl
gar nicht mitbringen, es sei denn, er wollte sie zum Kampf an-
treten lassen. Er würde sie schonen. Vermutlich lag sie gerade
wohlig in einer piekfeinen
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