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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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gelaufen zu sein. Besänftigt von der Heftig-
    keit seines Zorns, von einer unbändigen Rachelust, stürzte Tom
    ein weiteres Glas hinunter. Zweifelsohne hätte der Captain, wäre
    er in diesem Moment zur Tür hereingekommen, um Tom seine
    sechzig Guineen auf einem funkelnden Silbertablett zu servie-
    ren, Toms Enttäuschung handgreiflich zu spüren bekommen.
    Aber der Captain kam nicht. Am dritten Samstag, als zur ge-
    wohnten Zeit der Ring geschlossen wurde und der Gehilfe eifrig
    den blutbespritzten Boden schrubbte, baute sich der Wirt vor
    Tom auf. Er kam sofort zur Sache.
    »Du bist hier nicht mehr erwünscht. Falls du dich hier je wie-
    der blicken lässt, fliegst du hochkant wieder raus. Kapiert?«
    Tom starrte ihn an, weniger wütend als überrascht.
    »So miese Typen wie du vertreiben mir nur die guten Gäste«,
    fuhr Brassey fort. »Die machen sich nicht gern mit den Leuten
    gemein, die die Ratten liefern. Und überhaupt habe ich einen
    neuen Lieferanten.«
    »Aber der Captain ...«
    »Dein Geschäft mit dem Captain interessiert mich nicht.«
    Brassey wippte auf den Fußballen und rollte die Augen. »Mich
    interessiert nur, dass ich ein Geschäft am Laufen zu halten habe.
    Wenn du hier noch einmal auftauchst, kriegst du noch ganz an-
    dere Probleme als nur eine nicht beglichene Wette.«
    Es war Brasseys Gehilfe, der ihn – trotz seiner schmächtigen
    Gestalt stark wie ein Bulle – hinausbugsierte. Tom hämmerte ge-
    gen die verschlossene Tür, bis ihm die Arme wehtaten. Als er
    schließlich das Brüllen sein Ließ, loderte der Zorn in ihm lichter-
    loh. Er würde den Captain finden. Wenn der Captain irgendwo
    zu finden war, würde er ihn aufstöbern. Und wenn er ihn gefun-
    den hätte, würde der Captain zu Gott beten und wünschen, er
    wäre nie geboren worden.

    256

XIX

    D en ganzen Sonntag streifte Tom in der Stadt umher. Vor dem
    Morgengrauen hatte es wieder stark geschneit, und die frostige
    Luft verschlug ihm fast den Atem. Von Soho wanderte er zum
    Fluss und dann am Tower vorbei zum Pool, wo es stark nach
    Salz, Teer und verrottenden Tauen roch – ein Geruch wie von
    nassem Gras. Dort reckten sich die Masten schier endlos weit in
    den Himmel wie ein Wald kahler Bäume. Tom spazierte weiter
    zu den Minories und den Ratcliffe Highway entlang bis zu den
    gefrorenen Sümpfen von Shadwell und Poplar. Der Captain
    hatte Lady. Dieser Gedanke peinigte ihn wie eine Gräte, die im
    Hals feststeckt. Aber Tom würde die beiden schon finden. Zwar
    hatte der Captain sie so gut wie gestohlen, aber immerhin hatte
    sie ihn vierzig Guineen gekostet. Er würde sie nicht als Schoß-
    hündchen halten, nicht bei diesem Preis. Er würde Geschäfte mit
    ihr machen wollen, um wiederzubekommen, was er für sie aus-
    gegeben hatte. Er würde sie zu Kämpfen schicken, und zwar
    bald, wenn er es nicht schon getan hatte. Fragte sich nur, wo.
    Als Erstes suchte Tom das King̕s Head auf dem Cock Hill auf,
    wo er mit dem Wirt auf gutem Fuß stand, weil Tom zu seinen ver-
    lässlichen Lieferanten zählte. Boggis war jedoch kein Mann auf-
    gefallen, auf den die Beschreibung des Captain gepasst hätte, und
    auch kein neuer Hund. Der einzige Wirt, mit dem Tom an diesem
    Tag außerdem noch ein Gespräch führte, war ein ehemaliger
    Preisboxer mit einer Nase so platt wie eine Flunder, der in den
    Ruinen einer alten Schmiede in den sumpfigen Ausläufern von
    Mile End eine Art Schenke betrieb. Er stürzte das Glas Rum mit

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    Wasser hinunter, das Tom ihm spendiert hatte, und blickte finster
    drein. Toms Dienste benötige er nicht, meinte er; seine Ratten
    lasse er sich aus Clavering bringen, drüben in Essex, und das seien
    prächtige Exemplare, geschmeidige, fette Viecher, aus denen man
    einen Mantel schneidern könnte. Er habe keine Verwendung für
    noch mehr Ratten, und schon gar nicht für die kleinen, verdreck-
    ten Kanalratten. Schließlich betreibe er ein Lokal erster Güte, und
    seine Kundschaft sei sehr mäkelig. Mehr war nicht aus ihm he-
    rauszubekommen. Ein Mann von Toms Gewerbe, der mit Geld
    um sich schmiss – da stimmte was nicht. Hier sprach ein Narr mit
    vom Alkohol gelöster Zunge. Er lehnte
    s
    Tom Einladung zu einem
    weiteren Glas ab und sagte kein Wort mehr.
    Entmutigt machte sich Tom langsam auf den Rückweg zu sei-
    ner Bleibe. Mehr als einmal erhaschte er in der hereinbrechen-
    den Dämmerung einen flüchtigen Blick auf einen weißen Hund,
    und wenn das Tier dann auf eine bestimmte Art die Schnauze in
    die

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