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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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innehalten, um Luft zu
    schöpfen, die Hand auf dem Geländer. Unwillkürlich hob er den
    Kopf. Spratt verzog den Mund zu einem Grinsen, wischte sich
    mit dem Handrücken genüsslich die Nase ab und hob dann die-
    selbe Hand u
    z einem matten Gruß. William spürte, wie ihm die
    Röte in den Nacken schoss. Eilig humpelte er weiter.
    Der kleine Holzschuppen mit einer wasserdichten Plane als
    Dach war einer von mehreren, die die Ausspüler als Unterstand
    und Werkzeuglager zusammengezimmert hatten. Er befand sich
    am nördlichen Ende des Regent Circus in dem Durchgang, den
    die Anwohner Flower Lane, Blumengasse, nannten, auch wenn
    seit Menschengedenken keine einzige Blume so töricht war, ihr
    Glück in dem dunklen, sauren Erdreich dieser Gasse zu versu-
    chen. Als William anklopfte, rief ein Ausspüler schläfrig »He-
    rein«, und nachdem William ihm sein Anliegen vorgetragen
    hatte, erhielt er, wenn auch widerwillig, die für den Abstieg in
    die Abwasserkanäle notwendige Ausrüstung. Williams Mantel
    und Hose hängte der Ausspüler umstandslos an einen rostigen
    Nagel in der Wand.

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    »Und wo genau wollen Sie hin?«, fragte der Vorarbeiter stirn-
    runzelnd, der Augenblicke später hereinkam. Er kannte William
    gut und brachte ihm wegen seiner genauen Kenntnis der Abwas-
    serkanäle und wegen der Ruhe und Gelassenheit, mit der er sich
    im Untergrund bewegte, widerwillig Respekt entgegen. Doch
    Williams Ansinnen verzögerte die Durchführung der anstehen-
    den Arbeiten und w r
    a ihm lästig. »Es wird Regen erwartet, und
    der Pegel steigt.«
    William trug sein Anliegen erneut vor. Bei seiner Inspek-
    tion habe einer der Lehrlinge in einem der kleineren Tunnel ein
    Mauerwerk entdeckt, das von besonderem Interesse sei. William
    wollte es selbst in Augenschein nehmen, aber der Lehrling, der
    den Verlauf der Abwasserkanäle nicht gut kenne und schnell
    wieder nach oben wollte, habe ihm die entsprechende Stelle
    nicht exakt beschreiben können. William wäre daher sehr dank-
    bar, wenn ein erfahrener Ausspüler ihn begleiten würde, damit
    er den Bericht des Lehrlings überprüfen könne.
    Der Vorarbeiter seufzte. »Eine Stunde. Mehr nicht. Und wenn
    wir mit dem Deckel klappern, müssen Sie raus.«
    William war einverstanden. Jede Faser seines Körpers krib-
    belte vor Erregung und Angst. Sie würden den Toten finden, da-
    ran zweifelte er nicht. Er befestigte seine Laterne am Latz seiner
    Schürze und folgte dem schläfrigen Ausspüler die eiserne Leiter
    hinunter in die Tunnel.
    Sobald er den Fuß ins Wasser gesetzt hatte, fing sein Herz an
    zu rasen. Der Schachtdeckel über ihm schloss sich mît einem lau-
    ten Knall, dann war es schlagartig dunkel. Im fahlen Lichtkegel
    seiner Laterne sog William die faulige, feuchte Luft ein. Gewöhn-
    lich wirkte dieser Geruch beruhigend auf ihn, doch diesmal
    überkam ihn eine Übelkeit, die ihn in der Kehle würgte. Seine
    Hände zitterten. Er vergrub sie in den Taschen seiner Schürze
    und spannte die Beinmuskeln an, um schneller gegen die Strö-

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    mung vorwärts zu kommen. Die Laterne des Ausspülers schau-
    kelte vor ihm im Wasser hin und her, auf und ab. William zog die
    Füße durch den Schlamm und watete zügig weiter, bemüht, den
    Anschluss nicht zu verlieren. Er hatte hier unten stets die Ein-
    samkeit gesucht, doch jetzt verzehrte er sich wie ein Kind nach
    dem warmen Körper seines Begleiters, nach dem tröstlichen Ge-
    stank der vom Abwasserschlamm steifen Kleidung, dem schalen
    Biergeruch aus seinem Mund und dem beruhigenden Schulter-
    klopfen. Aber der Ausspüler war ihm weit voraus. William war
    schrecklich kalt. Die feuchte Kälte kroch ihm in die Knochen,
    und die halb verheilte Wunde an seinem Bein tat weh. Er hatte
    eine Gänsehaut.
    Weit vorne blieb der Ausspüler stehen und wartete. Als sich
    die Lichtkegel ihrer beider Laternen schnitten und der Schein
    heller wurde, spürte William, wie seine Angst nachließ. Trotz der
    primitiven Arbeit, die er zu verrichten hatte und trotz seiner
    schmutzverklebten Wangen hatte der Mann ein gütiges Gesicht.
    Gemeinsam würden sie die Leiche finden. Und gemeinsam wür-
    den sie wieder nach oben steigen. William brauchte keine Angst
    zu haben.
    »Hier lang?« Der Ausspüler machte eine Kopfbewegung nach
    rechts. William nickte und blieb dankbar stehen, um Atem zu
    schöpfen, aber der Mann war bereits weitergegangen. Der Licht-
    schein seiner Laterne streifte über die Wände und glitzerte auf
    der aufgewühlten

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