Der Vermesser
Luft reckte oder sich den Bauch im Staub rieb, machte sein
Herz einen Sprung. Mehr als einmal rief er ihren Namen. Aber
nie war sie es. Ihm taten die Füße weh. Er, der stets die Einsam-
keit gesucht und sich nur dann wirklich wohl gefühlt hatte,
wenn er für sich war, spürte nun die Last des Alleinseins schwer
wie einen Mantel auf den Schultern.
Einem plötzlichen Impuls nachgebend, folgte er dem ver-
schlungenen Verlauf einer Gasse bis hinunter zur Themse. Selbst
am Sonntag herrschte auf den Docks geschäftiges Treiben; Rufe
in allen möglichen Sprachen hallten durch den frühen Abend
und vermischten sich mit dem Platschen des Wassers, mit Ham-
merschlägen, den Klagelauten von Tieren und Kettengerassel.
Zwischen den Ausdünstungen von Schlamm, Salz, Teer und
Schweiß machte Tom den herben Geruch von starkem Tabak
aus, das sonnengesättigte Aroma von Rum, den ranzigen Ge-
stank von Häuten, die fremdländischen Wohlgerüche von Kaffee
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und Gewürzen, den warmen Brodem von Wein und den Hefe-
duft von Trockenfäule. Am Kai löschte gerade eine sardische
Brigg ihre Ladung, und am Ufer stapelten sich Tonnen und Fäs-
ser. Tom musste zur Seite treten, als sich sechs nebeneinander
gehende Matrosen von der Brigg an ihm vorbeidrängten. Unter
ihren schwarzen Bärten glitzerten goldene Ohrringe, und ihre
roten Hemden steckten an der Taille in bunten Schärpen. Sie ro-
chen streng nach Schweiß und Knoblauch und ließen ihre reich-
lich vorhandenen Goldzähne funkeln, wenn sie grinsten und he-
rumalberten und den düsteren Winternachmittag mit der Musik
ihrer fremdartigen Laute erfüllten. Ein wenig entfernt im Schat-
ten eines hoch aufragenden Lagerhauses warf eine Schenke ihr
Licht auf den schlammigen Boden. Durch das laute Stimmenge-
wirr hindurch vernahm Tom undeutlich das Kreischen einer
Fiedel, die ein irisches Tanzlied spielte.
Er trat ein. Die Taverne war gerammelt voll mit Seeleuten,
die in einem Dutzend verschiedener Sprachen durcheinander
schrien, und alles drängte sich um einen Geiger mit einer roten
Halsbinde, der auf einem Tisch in der Mitte der Gaststube stand.
Sein Bogen bearbeitete die Fiedel mit solchem Schwung, dass
man hätte meinen können, er wolle sie geradewegs in zwei Teile
zersägen, und er stampfte mit dem Stiefel auf die abgestoßene
Tischplatte, bis der ganze Tisch im Takt der Musik hüpfte. Um
ihn herum grölten und klatschten die Matrosen mit und gaben
ihren Sold mit vollen Händen aus. Eine Frau mit verfilztem Haar
und den flinken Augen eines Wiesels zupfte ihren Mann am
Wams, endlich mit ihr nach Hause zu kommen. Er schlug ihr auf
die Hände und versetzte ihr obendrein eine Ohrfeige, um sich
dann zu seinen Kumpanen zu gesellen, die ihn in ihrer Mitte
aufnahmen. Die Frau spuckte verächtlich vor den Männern aus,
warf ihnen einen Schwall von Flüchen an den Kopf und stürmte
aus der Schenke.
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Tom suchte sich eine Ecke, wo die Gefahr nicht so groß war,
auf die Zehen getreten zu werden, und ließ mit geschlossenen
Augen das Stampfen und Kreischen der Musik auf sich wirken.
Zwei Männer, allem Anschein nach Tagelöhner, stellten neben
ihm ihre Krüge auf dem Fenstersims ab.
»Hör mal, gestern Abend hab ich was gesehen, das glaubst du
nicht«, brüllte der eine dem anderen ins Ohr. »So was hab ich
mein Lebtag noch nicht gesehen.«
Über seinen Krug gebeugt, zog der andere eine Augenbraue
hoch und sog an seiner Pfeife.
»Drüben bei Spanks. War ziemlich ekelig, das Ganze. Aber so
wahr ich hier steh, kein Mörder in der ganzen Menschheitsge-
schichte war auch nur halb so blutrünstig. Hat zwanzig Ratten in
̕ner einzigen Minute erledigt – ich würd̕s nicht glauben, wenn
ich̕s nicht mit eigenen Augen gesehn hätt. Und dabei war der
Hund still wie das Grab – kein Mucks – von Anfang bis Ende. Ich
hätt ihn für ein Gespenst gehalten, wenn er nicht einem Ge-
schäftsmann ...«
Tom packte den Tagelö ner an d
h
er Jacke.
»Was zum Teufel ...«, mischte sich der andere ein, aber Tom
schnitt ihm das Wort ab.
»Wo war das?«, fragte er und beugte sich so nah zu ihm, dass
ihre Nasen sich fast berührten. »Der Hund, wo hast du den ge-
sehen? Sag̕s mir, du Mistkerl! Und zwar sofort, oder ich dreh dir
den Hals um, verstanden?«
Der Tagelöhner schüttelte ihn ab. Er war von kräftiger Sta-
tur, und seine Augen waren kaum mehr als Schlitze unter der
vorspringenden breiten Stirn. »Tja, so einfach ist das
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