Der Vermesser
Wasseroberfläche. Zwischen ihm und William
breitete sich die Dunkelheit aus wie ein Vorhang. Nach Luft rin-
gend, kämpfte sich William weiter voran. Seine Laterne warf nur
ein schwaches Licht und qualmte eigentümlich. Irgendetwas
stimmte damit nicht. Erschrocken schüttelte er sie, und die
Flamme zitterte. Eine Welle der Panik jagte durch seinen Körper,
dass er glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er biss
die Zähne zusammen, und seine feuchte Hand hielt die Laterne
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so fest umklammert, dass die Knöchel wie gelbe Zähne hervor-
traten. Er durfte nicht nach unten sehen. Die Leiche. Er musste
die Leiche finden. Wenn er die Leiche f d
an , war er nicht ver-
rückt. Wenn er die Leiche fand, konnte er wieder nach oben.
»Warten Sie bitte, so warten Sie doch!«, rief er mit heiserer
Stimme dem Ausspüler nach, aber seine Worte wurden von der
rauschenden Strömung geschluckt. Sein Kopf hüpfte auf und
nieder wie die Schatten rings um ihn, und ein Schwindel erfasste
ihn, dass er glaubte sich erbrechen zu müssen. Ihm war so kalt.
Er spürte weder Füße noch Hände. Er musste die Leiche finden.
Er musste hier raus. Jetzt begann die ihm früher so vertraute
Dunkelheit in die kalten, leeren Gewölbe zu sickern, und eine
trostlose Schwärze kroch ihm die Beine hinauf wie Rauch, der
durch den Schornstein zieht. Der altbekannte Drang, der ihn
plötzlich überfiel, zog ihm die Haut zusammen, ließ ihm den
Mund austrocknen und das Zahnfleisch zurückweichen. Seine
Haut juckte. Schreie der Begierde stiegen in ihm auf, schneller
und heftiger als je zuvor. Brachen wie eine wilde Horde aus den
dunkelsten Winkeln seiner Seele. Fegten unaufhaltsam durch
seine Adern. Entzündeten seine Knochen. Drangen in seinen
Schädel, als wollten sie ihn zerschmettern wie ein rohes Ei. Ge-
gen diesen erbarmungslosen Ansturm war er machtlos. Er hörte,
schmeckte, fühlte und sah nichts anderes mehr. Er musste sie he-
rauslassen, bevor sie ihn zerstörten. Doch diesmal war es nicht
das Messer, nach dem er sich verzehrte. Nicht das Messer würde
ihm Erlösung bringen, sondern die Leiche.
Der Ausspüler blieb erneut stehen, um auf William zu warten.
Vor ihm lag ein schmaler Tunnel, kaum einen Meter hoch. Seine
Laterne schaukelte, als er sich zu William umdrehte, und ihr
Licht streifte etwas, das unweit der Öffnung im Tunnelinnern
steckte. Etwas Blasses, Weißliches. Und dann war es wieder ver-
schwunden, von der Dunkelheit geschluckt. Doch das klare Bild
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eines aufgedunsenen Körpers verschwand nicht, sondern grub
sich mit langen, tiefen Schnitten in Williams Schädel ein. Die
Leiche. Es war die Leiche.
William drängte sich mit solchem Ungestüm an dem Ausspü-
ler vorbei, dass dieser das Gleichgewicht verlor. William riss sich
die Laterne von der Schürze und hielt sie in die Höhe. Dann sank
er mit einem erstickten Triumphschrei auf die Knie, dass das
faulige Wasser ihm an die Brust schwappte, und bahnte sich den
Weg in den Tunnel. Das von den Wänden zurückgeworfene
Licht erzeugte ein weißes Leuchten. Pilze. Die Wände waren
übersät mit Pilzen, die aus dem bröckelnden Mauerwerk heraus-
wucherten. Ihr kalter Zersetzungsgeruch stieg William in die
Nase und drang ihm in den Schädel. Die Leiche. Er hatte die Lei-
che gesehen! Die Knie fest in den schwarzen Blähschlamm pres-
send, arbeitete er sich in den Tunnel hinein. Die Pilze ringsum
schienen immer weiter anzuschwellen, alle Geräusche zu dämp-
fen und ihn von der Außenwelt abzuschotten. Ihre aufgequol-
lene Blässe deutete auf verwesendes Fleisch hin, ohne es jedoch
preiszugeben. William überkam Übelkeit, dann Verwirrung und
plötzlich ein rasender Zorn. Mit ganzer Kraft schlug er mit sei-
ner Laterne nach den bauschigen Pilzen, das Gehäuse löste dicke
Klumpen von schwammigem Fleisch. Derart um sich schlagend,
bahnte er sich eine Schneise in den niedrigen Tunnel. Dann
plötzlich zersprang das Glas, und die Kerze erlosch. Vollkom-
mene Dunkelheit umgab ihn. William schleuderte die zerbro-
chene Laterne fort. Die Leiche war hier. Er hatte sie gesehen. Er
tauchte die Arme ins Wasser und fuhr mit den Fingern durch
den Schlamm; Glasscherben schnitten ihm in die Hände. Der
Schmerz beruhigte ihn ein wenig. Auf den Knien rutschend, tas-
tete er sich weiter, riss an den fleischigen Wänden und ließ die
Hände immer wieder durch den Schlick am Grunde des Kanals
gleiten.
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»Ich weiß, dass
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