Der Vermesser
anzusteuern. Es war
schwierig, dorthin zu kommen, weil es in der Nähe keinen Ein-
stieg gab und man sich stattdessen unterirdisch voranarbeiten
musste, aber Brasseys Auftrag war ja auch kein gewöhnlicher. In
Newgate gab es genügend Ratten, auch in der gewünschten
Größe. Direkt unter dem Fleischmarkt war das Abwasser sämig
von Blut, Mist und Schlachtabfällen. Diese reichhaltige Nahrung
hatte die Ratten von Newgate fett und übellaunig gemacht wie
Kirchendiener. Auf der einen Tunnelseite hatten sie es geschafft,
sich eine Höhle zu graben, die groß wie ein Zimmer und mehr
als zwei Meter hoch war; hier zogen sie ihre Brut auf. Es mussten
mehr als achthundert Stück sein, schätzte Tom, die dort wie ein
lebendiger Berg aus Asche übereinander krochen und krabbel-
ten. In Newgate hatte noch nie jemand einen dieser Lackaffen
aus dem Parlament gesehen.
Sie waren fast am Ziel. Es stank bestialisch nach verwesendem
Fleisch, und auf dem Wasser kräuselte sich ein schmieriger brau-
ner Schaum. An der Stelle, wo sich der Tunnel Richtung Norden
wandte, setzte Joe die Käfige ab. Tom nahm die Laterne von der
Hacke. Er lehnte den Stiel gegen die Wand und befestigte die La-
terne an einer Schlaufe vorn an seiner Segeltuchschürze. So hatte
er beide Hände frei und konnte gut sehen. Dann streifte er sich
die Stulpenhandschuhe über. Sie waren vor Alter und Dreck
ganz steif und bildeten bis ins Detail die Form seiner Hände ab,
so dass selbst die geschwollenen Knöchel zu erkennen waren. Er
zog sie noch einmal straff, griff nach dem Knüppel und nickte
Joe zu. Die Arbeit konnte beginnen.
38
III
D ie Büroräume von Joseph Bazalgette, dem leitenden Ingenieur
des Londoner Amtes für öffentliche Bauvorhaben, und seiner
Mannschaft von Ingenieuren, Vermessern und Zeichnern lagen
in der Greek Street Nummer 1 in Soho. Von diesen bescheidenen
Räumlichkeiten aus plante Bazalgette das vielleicht ambitionier-
teste Bauvorhaben im Bereich des zivilen Ingenieurwesens, das
je in Angriff genommen wurde – die Konstruktion eines völlig
neuen unterirdischen Abwassernetzes für die gesamte Stadt. Über
die Dringlichkeit eines solchen Unternehmens herrschte absolute
Einigkeit. Zwar waren auch schon frühere Stadtverwaltungen da-
rangegangen, das Kanalnetz zu verbessern, aber das hatte immer
wieder zu neuen Problemen geführt. Zu Beginn des Jahrhunderts
hatte sich jedes Haus seiner Exkremente mittels einer Senkgrube
im Keller entledigt, die regelmäßig von Grubenräumern entleert
wurden. Mit dem Anwachsen der Bevölkerung in der Hauptstadt
erwies sich dieses Verfahren jedoch als zunehmend unpraktisch
und unhygienisch. Schließlich wurden sämtliche Senkgruben an
einen Kanal angeschlossen, der das Abwasser sammelte und über
einen Hauptstrang direkt in den Fluss leitete. In den nunmehr
maroden und unterdimensionierten Kanälen vermischten sich
menschliche Ausscheidungen mit den Abfällen der Schlachthäu-
ser und Abdeckereien sowie den Abwässern von Gerbereien und
Fabriken. All das strömte unablässig in die Themse. Bald wurde
der Fluss selbst zur größten Senkgrube der Stadt. Bei Ebbe ver-
fingen sich die Fäkalien und Abfalle an Brückenpfeilern oder
sammelten sich zu stinkenden, gärenden Morasthaufen.
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London, die größte Metropole der Welt, vergiftete sich selbst,
so lautete Mitte des Jahrhunderts die einhellige Meinung von
Ärzten und Wissenschaftlern. Wenn die Abwässer in den Kanä-
len zusammenflössen, die in der Mehrzahl nichts anderes waren
als offene Gräben, strömten sie hochgiftige Gase aus. Diese ent-
wichen in die Atmosphäre, und mittels schlechter Luft und un-
sauberen Wassers gelangten die Gifte in Lungen und Mägen, wo
sie vom Blut aufgenommen wurden und todbringende Krank-
heiten hervorriefen. Innerhalb von zehn Jahren war London von
drei grausamen Choleraepidemien heimgesucht worden. Jedes
Mal wütete die Seuche am schlimmsten in jenen Teilen der Stadt,
wo Luft und Wasser besonders verpestet waren. Niemand zwei-
felte daran, dass etwas unternommen werden musste.
Entschieden weniger leicht war es, eine Lösung für dieses Pro-
blem zu finden. Bazalgettes Plan lief auf ein komplett neues Ka-
nalnetz hinaus, mit dem die riesige, verunreinigte Fracht aus
Senkgruben und Kloaken zu Austrittsöffnungen flussabwärts
weit außerhalb der Stadt befördert werden sollte. Diesem Plan
zufolge würden an die zweihundertvierzig Kilometer neuer
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