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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Hawkes
    Warnungen keine Beachtung geschenkt hatte. Er hatte zugelas-
    sen, dass seine Abneigung gegen diesen Menschen sein Urteil
    trübte, und dieser sein Fehler konnte den Ausschuss teuer zu ste-
    hen kommen. Von Anfang an war die Arbeit der Baubehörde
    von Presse und Parlament peinlich genau verfolgt worden. Bis-
    her war ihr Urteil überwiegend wohlwollend ausgefallen, und
    Bazalgette und seine Mitarbeiter hatten fast einhelliges Lob ge-
    erntet für ihre strikte Sparsamkeit und Besonnenheit, mit der sie
    die Arbeiten vorantrieben. Aber schon der leiseste Hauch eines
    Skandals konnte die öffentliche Meinung in die entgegenge-
    setzte Richtung ausschlagen lassen. Feather hatte ihm erklärt,
    die Einweisung in eine der überbelegten Armenanstalten würde
    Wochen dauern oder, falls es unter den dortigen Insassen weni-
    ger als die übliche Zahl von Sterbefällen gebe, sogar Monate.
    Wer wusste schon, in welche Schwierigkeiten ein Geisteskranker
    die Baubehörde stürzen würde, wenn man wochenlang warten
    musste? Hawke hatte völlig Recht gehabt, dem Mann zu miss-
    trauen. Diesem zitternden, stinkenden Wrack. Je schneller man
    ihn in Verwahrung nahm, desto besser für sie alle. Lovick rief
    einen Schreiber zu sich und trug ihm auf, Mays Ehefrau über
    den derzeitigen Zustand ihres Mannes zu unterrichten und Be-
    werbungsgespräche mit geeigneten Kandidaten zur Neubeset-
    zung der nunmehr vakanten Stelle vorzubereiten. Wenn die Ar-
    beit im jetzigen Tempo weitergeführt werden sollte, war keine
    Zeit zu verlieren.
    Feather fuhr mit seiner eigenen Kutsche zur Irrenanstalt, sei-
    nen Gehilfen und William stand ein weniger elegantes Gefährt
    zur Verfügung. Die beiden platzierten sich vis-à-vis von Wil-

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    liam. An den Innenwänden ihrer Kutsche waren auf Schulter-
    höhe schwere Eisenringe angebracht, und die Fenster hatte man
    mit Vorhängen aus billiger schwarzer Baumwolle verhängt. Die
    Sitzpolster rochen nach Schimmel und Urin. Im Dämmerlicht
    waren die Gesichter der Gehilfen von streifigen Schatten überzo-
    gen, aus denen ihre Augen hervorfunkelten. Sie schienen gar
    nicht richtig auf der Bank zu sitzen, sondern stemmten die Füße
    auf das verdreckte Stroh, mit dem der Boden bestreut war, und
    ließen die Muskeln ihrer fleischigen Beine spielen, bereit, jeden
    Moment aufzuspringen, um ihren Mitreisenden auf die Bank
    niederzuzwingen. Von irgendwo hörte man das gedämpfte Ras-
    seln von Ketten. Aber William bewegte sich nur, wenn ihn ein
    besonders heftiges Rucken der Kutsche aus seinem Sitz hob. Fea-
    ther hatte ihm ein Mittel verabreicht, um ihn ruhig zu stellen,
    und in seiner Gier hatte William fast den Löffel vom Stiel abge-
    bissen. Nun breitete sich eine Leere in seinem Kopf aus, flach
    und grau wie der Winterhimmel. Es kam ihm überhaupt nicht
    in den Sinn, darüber nachzugrübeln, was nun mit ihm gesche-
    hen werde. Er dachte nicht daran, wie Polly es wohl aufnehmen
    würde, wenn sie es erfuhr, oder wer es ihr mitteilte. Gedanken an
    Di trieben nebelhaft durch die Leere, aber es waren nur fahle Ge-
    dankenfetzen, fern und konturlos, eine dünne Mischung aus
    Sehnsucht, Verwirrung und dem beängstigenden Gefühl, dass
    allein schon dieses Nachsinnen die Reinheit des Jungen mit
    Schmutz und Schande besudeln könnte. Dann lösten sich auch
    diese Gedanken auf. Durch Feathers Arznei fühlte sich sein
    Mund sandig und trocken an. Die Zunge lag ihm unförmig im
    Mund, seine Lippen waren wie versiegelt. Er schloss die Augen.
    Kaum spürte er noch, dass er atmete, während sich die Ränder
    seines Ichs zusammenzogen und es schrumpfte, bis von ihm
    nichts mehr übrig war als der verkrampfte Widerstand seiner ge-
    fesselten Arme und der mahlende Kopfschmerz in den sanften

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    Wölbungen seiner Schläfen und sich alles, was möglich war und
    was je sein würde, auf den verdunkelten Raum der nach Moder
    und Pisse stinkenden, dahinruckelnden Kutsche begrenzte. Ihm
    gegenüber streckten die Gehilfen ein wenig die Beine aus. Der
    eine zog eine Taschenflasche aus der Jacke und nahm einen kräf-
    tigen Schluck, dann reichte er sie seinem Begleiter. Die beiden
    sprachen kein Wort, aber gelege t
    n lich warfen sie sich einen Blick
    zu und lachten.
    Schließlich verschwanden die rußüberzogenen Häuser Lon-
    dons, und statt ihrer sah man ausgedehnte graue Felder und un-
    belaubte winterliche Dornenhecken, deren schwarzes Gitter-
    werk Schattenmuster auf die Fenster warf. Die Straße hier war
    holpriger, und

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