Der Vermesser
fiebrige Hitze des Irreseins abzuküh-
len. Manche Patienten ließen dennoch nicht davon ab, leiden-
schaftlich und oft auch gewaltsam Widerstand zu leisten, doch
war dies nicht die Mehrheit. Dank einer Ernährung, die reich an
Beruhigungsmitteln und arm an Nährwert war, strahlte das Ir-
renhaus eine Atmosphäre schläfriger Ruhe aus; Gleichmaß und
tägliches Einerlei waren das oberste Gebot. Die Patienten erhiel-
ten weder Bleistift noch Papier, denn deren Gebrauch hätte zu
übermäßiger Erregtheit führen können, und Bücher und Zei-
tungen waren nur eingeschränkt zugänglich. Den Patienten war
ausdrücklich verboten, von sich selbst zu sprechen, galt es doch
als wissenschaftlich erwiesen, dass einem Hysteriker zuzuhören
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nur seine morbide Selbstüberschätzung steigerte. Zwar herrsch-
ten strenge Regeln, was die Befugnisse der Pfleger betraf, doch
da Männer, die diese schwierige Aufgabe übernehmen wollten,
nur schwer zu finden waren, erachtete es die Verwaltung als
sinnvoll, den Pflegern beträchtlichen Spielraum bei der Ausle-
gung dieser Regeln zu gewähren. Nicht nur dass es zu wenig Pfle-
ger gab, auch das potenziell unberechenbare Wesen der Patien-
ten galt es zu bedenken. Außerdem verfugte die Anstalt nur über
zwei fest angestellte Ärzte, die zwar jederzeit bereit waren, per-
sönlich und mit gebotenem Ernst mit denjenigen zu sprechen,
die die Kosten für die Patienten zu tragen hatten, jedoch häufig
außerhalb der Anstalt zu tun hatten. Mit den einzelnen Patien-
ten beschäftigten sie sich meist nur wenige Minuten pro Woche.
Und so kam es, dass die Pfleger die eigentlichen Herren der An-
stalt waren und jede Krankenstation ein eigenes kleines Fürsten-
tum darstellte, in dem die besonderen Vorlieben des jeweiligen
Pflegers Gesetz waren.
An seinem ersten Morgen in Hounslow wurde William nur
mühsam wach. Vom Chloral schmerzten ihm Augen und Schädel-
decke, und seine gefesselten Arme waren schwer und taub. Er at-
mete tief ein, doch trotz der eisigen Kälte roch die Luft ranzig und
abgestanden. Stimmen waren zu hören und das Geräusch schwe-
rer Schritte. Noch bevor er die Augen aufschlagen konnte, wurde
ihm der Kopf angehoben und mit Gewalt ein Blechlöffel zwischen
die verklebten Lippen geschoben. Der Löffel stieß ihm gegen die
Zähne, wurde wieder herausgezogen, und als William ins Kissen
zurückfiel, würgte es ihn so sehr, dass ihm Tränen in die Augen
traten. Durch den Tränenschleier nahm er einen Mann wahr, der
sich halb weggedreht hatte. Seine Schultern hingen schlaff herab,
und er hatte grau meliertes Haar. Dann schlief William wieder ein.
Erst viel später wurde er erneut wach. Der Schlaf hatte keine
Erholung gebracht. Noch immer pochte der Schmerz in seinen
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Schläfen, er fühlte sich gereizt und ausgelaugt. Aber seine Hände
waren frei. Ganz vorsichtig und unter Aufbietung seiner ganzen
Kraft hob er den Kopf. Er befand sich in einem kleinen Zimmer
von etwa fünfzehn Quadratmetern, in das man acht schmale
Betten gequetscht hatte. Die Wände bestanden aus flüchtig ge-
tünchtem Backstein, und es gab ein einziges kleines, vergittertes
Fenster. Ein Kamin war nicht vorhanden. Außer einem einla-
dend wirkenden Sessel, der unverhältnismäßig viel Platz bean-
spruchte, waren die Betten die einzigen Möbelstücke. Der Sessel
war leer, während in den meisten Betten Männer lagen, die sich
nicht rührten, die Augen geschlossen oder den Blick an die De-
cke geheftet. Ein weiterer Mann hockte in dem engen Gang zwi-
schen den Betten und umklammerte die Eisenstäbe von Wil-
liams Bettgestell. Wie alle anderen trug auch er einen Kittel, der
jedoch verschmutzt und bis über die Hüfte hochgezogen war.
Darunter war er nackt. Er war erschreckend dünn. Seine Nase
ragte wie ein gekrümmter Finger aus dem Gesicht, und seine
fahle Haut war übersät mit tief eingegrabenen Pockennarben.
Aber er hatte klare, strahlend blaue Augen, und als er den Kopf
zurückwarf, erleuchtete das blasse Tageslicht sein Gesicht. Es
war erfüllt von einer Art überirdischer Ekstase. Der Mann ließ
die Stäbe los, reckte verzückt die Arme in die Höhe und be-
schwor emphatisch die Herrlichkeit des allmächtigen Gottes. Als
seine Worte in frohlockender Anbetung aus ihm herausström-
ten, spürte William plötzlich einen Stich. Das Bewusstsein, dass
er etwas verloren hatte, war so schmerzlich, dass er am liebsten
laut aufgeschrien hätte.
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