Der Vermesser
Wo-
chen später, als er von Englands Tod erfuhr, ein Anliegen gewe-
sen, ihr den Brief zu schreiben und durch sie der Polizei seine
Hilfe anzubieten. Er sagte Rose, er sei felsenfest überzeugt, dass
Hawke in irgendeiner Weise in Englands Tod verwickelt sei.
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Hawke habe sich bereit erklärt, England gegen Geld einen Ver-
trag zu verschaffen, was ihm aber nicht gelungen sei. Englands
Firma habe kurz vor dem Bankrott gestanden und daher drin-
gend Geld benötigt. Vielleicht habe England ihn in irgendeiner
Weise bedroht, versucht, ihn zu erpressen. Falls Hawke befürch-
tet habe, entlarvt zu werden ...
»Hawke?«, unterbrach ihn Rose. »Der Beamte, der die Finanz-
aufsicht über das Kanalbauprojekt führt, nicht wahr
? Ein ziem-
lich hoher Posten in der Behörde?«
»Ja! Er steht im Ruf, die Mittel überaus sparsam zu verwalten.
Brillant, nicht wahr? Niemand, der Hawke kannte, wäre je auf
den Gedanken gekommen, dass er die ganze Zeit Geld in der
eigenen Tasche verschwinden ließ. Aber genau das tat er. Er hat
es mir selbst gesagt. Er bot mir einen bestimmten Anteil als Ge-
genleistung, wenn ich
für
da
sorgen würde, dass England einen
umfangreicheren Auftrag erhielte.«
»Gibt es Zeugen dafür?«
»Nein, natürlich nicht. Hawke ist kein Narr.«
Roses Augenlider senkten s ch
i
ein wenig. William hörte das
Kratzen des Bleistifts auf Papier.
»Es war allgemein bekannt, dass Sie auf schlechtem Fuß mit
ihm standen, nicht wahr?«
»Mit Hawke? Nicht mehr als mit jedem anderen. Oder zumin-
dest nicht bis zu der Sache mit England.«
»Aber man wusste, dass Sie einander nicht grün waren? Auf
sein Drängen hin wurden Sie von einem Arzt untersucht,
stimmt das?«
»Er wollte mich unglaubwürdig machen«, wandte William
ein. »Verstehen Sie das nicht?«
Rose schwieg.
»Auf meine Empfehlung hin bekam eine andere Ziegelei den
Zuschlag«, fuhr William unbeirrt fort. »Zwei Tage später war
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England tot. Erst Wochen später wurde sein Leichnam gefun-
den, aber Hawke wusste Bescheid. Er wusste es schon vorher. Als
ich mit dem Vorschlag zu ihm kam, England den Vertrag für Ab-
bey Mills zu geben, lachte er nur. Weil er wusste, dass es zu spät
war. Er wusste, dass England bereits tot war.«
Rose presste die Lippen zusammen und unterdrückte einen
Seufzer. Seine Beine kribbelten, und seine Schultern waren ver-
spannt. Er veränderte seine Position und schielte verstohlen auf
die Uhr, die er aus der Westentasche gezogen hatte. Nun war er
schon seit fast drei Stunden auf dem Gefängnisschiff, fast die
ganze Zeit vor der Klappe kniend, und noch immer hatte er nichts
in Händen. Nichts, was ihm der Gefangene erzählt hatte, würde
einem Kreuzverhör standhalten, falls man ihn überhaupt in den
Zeugenstand rufen würde. Nein, es würde gar nicht erst dazu
kommen. Denn als ausgewiesener Geisteskranker war seine Aus-
sage keinen Pfifferling wert. Rose konnte nur hoffen, dass er et-
was oder jemanden auftat, wodurch Mays Geschichte bestätigt
wurde. Aber was? Wen? Hawke würde kaum freiwillig seine Hilfe
anbieten. Und die Baubehörde würde sich in Schweigen hüllen,
daran bestand kein Zweifel. Sie befand sich bereits jetzt in einer
unangeneh en
m
Lage und wollte gewiss nicht noch einen weite-
ren ihrer Mitarbeiter in diese hässliche Affäre verstrickt sehen.
Außerdem – wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass May
die Wahrheit sagte? Oder dass seine Vermutungen tatsächlich der
Realität entsprachen? Rose sah sich Phantomen nachjagen, um
Bestätigung für eine Geschichte zu finden, die nur das Produkt
von Fieberfantasien war. Schließlich galt der Häftling als anfällig
für wilde Albträume und Gedächtnisstörungen. Er sah Dinge,
die gar nicht existierten. Zwar behauptete er, nicht verrückt zu
sein, aber er hatte mit seiner eigenen Unterschrift der Einwei-
sung in eine Irrenanstalt zugestimmt. Niemand zweifelte daran,
dass May schuldig war. Warum sollte er, Rose, daran zweifeln? Er
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spannte die schmerzenden Füße an, fühlte, wie das Leben in
seine Waden zurückkehrte, und klappte das Notizbuch zu.
»Es ist spät«, sagte Rose, und seine rot unterlaufenen Augen
schweiften ab. »Ich muss gehen.«
»Aber Sie kommen doch wieder, nicht wahr? Morgen, wenn
Sie mit Hawke gesprochen haben und mit Lovick?«
»Vielleicht«, erwiderte Rose ausweichend.
Einen Moment lang stand William völlig reglos da. Dann sank
er auf die Knie. Die Fußeisen
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