Der Vermesser
zogen an seinen Beinen, aber er
schien es nicht zu merken. Unverwandt hielt er den Blick auf den
Türschlitz gerichtet, und in seinem angespannten Gesicht tra-
ten die Knochen markant hervor. Er faltete die hohlen Hände.
Seine Löwenaugen schimmerten golden. Mit seinem verdreckten
Nachthemd, dem in Büscheln abstehenden Haar und dem zer-
zausten Bart erschien er Rose wie ein Asket, ein Prophet aus dem
Alten Testament, der im Namen eines launischen und rachedurs-
tigen Gottes unerträgliches Leid erdulden musste. Nicht mehr
wie ein Löwe, sondern wie Daniel, der all seinen Mut und Glau-
ben zusammennahm, um sich in die Löwengrube zu wagen.
»Ich habe ihn nicht umgebracht, Mr. Rose.«
Rose blinzelte traurig und zwang sich, dem Blick des Häftlings
standzuhalten. »Wir werden tun, was in unserer Macht steht«,
sagte er erneut. »Mehr kann ich nicht versprechen. Gute Nacht,
Mr. May.«
Energisch schellte er mit der Glocke, um einen Wärter zu ru-
fen. William beobachtete, wie die Augen hinter der Tür ver-
schwanden. Durch den schmalen Schlitz sah er nur noch die
roten Hände des Anwalts, die ungeschickt über die Hosenbeine
und den Sa m
u seiner Jacke strichen. Der Stoff war schmutzig,
bedeckt mit Staub und Stroh.
»Noch ein Letztes«, sagte William beinahe flüsternd durch
den Schlitz. »Bitte übermitteln Sie meiner Frau eine Nachricht.
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Sagen Sie ihr, es täte mir leid wegen all der Sorgen, die ich ihr ge-
macht habe. Sagen Sie ihr, dass h
ic sie liebe und sie immer lieben
werde.«
Die Hände hielten inne. Erst nach einer Weile suchten sie
einander und verschränkten sich fest. »Ja, natürlich«, murmelte
Rose. »Natürlich.«
»Sagen Sie ihr, dass ich Pläne für ihren Garten ache.
m
Er wird
wunderschön werden. Sagen Sie ihr ...«
Williams Worte wurden von schweren Tritten übertönt. Rose
sprach murmelnd mit dem Wärter, bevor er dem Gefangenen
erneut eine gute Nacht wünschte. Flehentlich bat William den
Anwalt, sich zu dem Schlitz hinunterzubeugen. Zögernd kam
Rose dem Wunsch nach und vernahm Williams geflüsterte Wor-
te. Verwirrt und unsicher, ob er richtig verstanden habe, bat
Rose ihn, es noch einmal zu wiederholen, aber William bewegte
nur lautlos die Lippen. Die Erschöpfung hatte ihm alle Kraft ge-
raubt. Er schloss die Augen und ließ sich gegen die eiserne Zel-
lentür fallen, während Rose hinausbegleitet wurde. Wir werden
tun, was in unserer Macht steht. Wir werden tun, was in unserer
Macht steht. William hatte geglaubt, ein wenig Trost aus diesen
Worten zu schöpfen, aber sie wiederholten sich nur endlos in
seinem Schädel, bis ihre Ecken und Kanten abgeschliffen und ihr
Sinn verloren war. Als er schließlich zusammengerollt wie ein
Embryo einschlief, träumte er von rot unterlaufenen, hervor-
tretenden Augen, eingerahmt von rostigem Metall, und als er in
den dunklen, kalten Stunden vor der Morgendämmerung er-
wachte, erfüllte ihn eine schreckliche Gewissheit, dass der An-
walt, sosehr er sich bemüht hatte, nicht ein Wort von Williams
Geschichte glaubte.
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XXVI
D ie Staatsanwaltschaft übermittelte Roses Anwaltskanzlei die
Nachricht am folgenden Morgen. Tags zuvor hatten die Ermitt-
lungsbeamten Mays Arbeitsplatz in der Greek Street durchsucht
und unter einer losen Fußbodendiele unter seinem Schreibtisch
ein Bajonett entdeckt, wie es die einfachen Soldaten im Krim-
krieg benutzt hatten. Die Ermittler gingen davon aus, dass Eng-
land mit dieser Waffe getötet worden war. An der Schneide klebte
getrocknetes Blut, und auf der Unterseite klebten zwei schwarze
Barthaare, die genauso lang und von derselben Farbe waren
wie die des Toten. Mit dieser Entdeckung war für die Anklage
der Fall abgeschlossen. In Anbetracht des abscheulichen Verbre-
chens und der Gefahren, die damit verbunden waren, einen
Geistesgestörten länger als notwendig auf einem Gefängnisschiff
festzuhalten, drängte die Staatsanwaltschaft auf eine rasche Ver-
urteilung. Daher hatte der Richter die Genehmigung erteilt, die
Verhandlung auf den ersten Tag der neuen Sitzungsperiode zu
legen. Mays Prozess würde also am Montag beginnen, in sechs
Tagen. Bis dahin hatte Rose Zeit, die Verteidigung des Gefange-
nen vorzubereiten.
Selbstverständlich würde er dagegen Einspruch erheben. Sie
konnten nicht derart willkürlich die Verhandlung vorverlegen.
Doch das war es nicht, was Rose beunruhigte, als er den Wasser-
kessel für den Tee aufsetzte. Er
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