Der Vermesser
entrahmter Milch. Seine Hände
hingegen waren rot und grobknochig, die Fingernägel abgekaut
und die Knöchel wund gescheuert. Er trug einen sauberen, an-
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nehmbar gebügelten Anzug, der jedoch für einen Mann mit bes-
ser proportioniertem Körperbau geschneidert war, so dass die
Handgelenke aus den Ärmeln hervorragten wie knorrige Fah-
nenstangen, von denen seine roten Hände linkisch herabhängen,
als wäre es ihnen peinlich, öffentlich zur Schau gestellt zu wer-
den. Um ihre Verlegenheit zu verbergen, neigte er dazu, sie beim
Sprechen krampfhaft hinter dem Rücken zu verschränken, so
dass sie noch röter wurden. Wenn ihnen das zu viel wurde, nah-
men sie Zuflucht in seinen Hosentaschen, die der Schneider un-
erklärlich tief gesetzt hatte. In dieser Stellung wirkte Rose trotz
seiner langen Arme gebeugt nd
u verdruckst und nicht gerade
Vertrauen erweckend.
Die Kriminalbeamten gaben sich nicht die geringste Mühe,
ihre Verachtung zu verhehlen, als Rose mit ihnen über den Mord
sprechen wollte. Ihrer Ansicht nach war der Fall klar und das
Gerichtsverfahren reine Formsache. Den schlaksigen Anwalt mit
den Froschaugen und den puterroten Händen betrachteten sie
als die billigste Lösung, die die Krone gefunden hatte, um den
Vorschriften eines ordentlichen Strafprozesses Genüge zu tun.
Sie gewährten Rose nicht einmal eine halbe Stunde, antworteten
einsilbig auf seine Fragen und trommelten nervös auf die Tisch-
platte. Als Beweismaterial, auf das sie sich vor Gericht zu stützen
gedachten, konnten sie ihm lediglich einen dünnen hellbraunen
Umschlag zur Einsicht vorlegen, der die Aussagen zweier Mitar-
beiter des Amtes für öffentliche Bauvorhaben – Mr. Hawke und
Mr. Spratt – sowie zweier weiterer Männer aus der Anstalt von
Hounslow – Dr. Pettit und Mr. Vickery – enthielt. Es seien noch
zusätzliche belastende Dokumente vorhanden, räumten sie ein,
doch habe man sie leider verlegt. Sobald sie wieder aufgefunden
seien, werde Mr. Rose Abschriften für seine Unterlagen erhalten.
Kaum eine halbe Stunde nach seinem Eintreffen stand der An-
walt wieder auf der Straße.
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Obwohl er gute Lust hatte, den Besuch auf den folgenden Tag
zu verschieben, machte er sich vom Polizeirevier aus direkt auf
den Weg nach Woolwich. Er war noch nie zuvor auf dem dort
vertäuten Gefängnisschiff gewesen, dessen Lärm und Dreck ihn
entsetzten und dessen Gestank ihm Übelkeit verursachte. Als er,
die Hände hinter dem Rücken verschränkt, durch das Schiffsin-
nere schlich, schabte sein Adamsapfel wie eine Grille an dem
steifen Hemdkragen, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als
die Augen zu schließen und auf wundersame Weise in die fried-
liche Ruhe seiner schäbigen Unterkunft im Temple-Bezirk zu-
rückbefördert zu werden. Schließlich erreichten sie Williams
Zelle, doch der Wärter schloss die Tür nicht auf. Rose in die
Zelle des Häftlings treten zu lassen hätte den Sicherheitsvor-
schriften widersprochen. Deshalb entriegelte der Wärter nur die
Eisenklappe in der Tür, durch die er gewöhnlich dem Gefange-
nen seine tägliche Ration Brot und Wasser reichte, und forderte
den Anwalt auf, in die Hocke zu gehen, damit er durch den
Schlitz sprechen konnte. Außerdem reichte er Rose eine eiserne
Glocke, um ihm Hilfe herbeizurufen, wenn ihm der Häftling
Schwierigkeiten machte oder er zu gehen wünschte. Rose nickte
und beugte sich hinunter, als der Wärter außer Sichtweite war.
Der Häftling in der Zelle sah lediglich die Augen des Besuchers,
Rose hingegen konnte seinen Mandanten vollständig in Augen-
schein nehmen. Doch der Anblick, der sich ihm bot, hob nicht
gerade seine Stimmung.
William lag gefesselt gegen die Wand gepresst. Er trug noch
immer das baumwollene Nachthemd aus der Irrenanstalt, das
inzwischen verdreckt und zerrissen war, und sein Haar stand
ihm in Büscheln vom Kopf ab. Die Augen hielt er geschlossen.
Rose musste an den alten Löwen im Londoner Zoo mit seinem
von Motten zerfressenen Fell denken, über den die Besucher
murrten, weil er sich nie vom Fleck bewegte oder brüllte oder
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tat, was Löwen in Bilderbüchern zu tun pflegten, sondern sie mit
seinen bösartigen Augen reglos anstarrte und ihnen allen den
Tod zu wünschen schien. Außerdem stank der Gefangene auch
wie ein alter Löwe. Rose zog ein Taschentuch aus seiner Tasche
und sog den tröstlichen Duft von onbons ein.
B
»Mr. May?«
William schlug die Augen auf
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