Der Vermesser
dachte vielmehr an May, der ge-
fesselt in seiner dunklen Zelle kauerte. Dann hatte er es also
doch getan. May hatte Alfred England ermordet. Rose faltete den
Brief der Staatsanwaltschaft zusammen und legte ihn zu seinen
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Unterlagen, überrascht, wie groß seine Enttäuschung war. Wäh-
rend der Kessel auf dem Herd zu rasseln begann, starrte Rose
in die Flammen, die Ellbogen auf den Knien, die roten Hände
gefaltet. Die Enttäuschung ist nur natürlich, sagte er sich, um
die Fassung wiederzugewinnen. Wer wollte schon seinen ers-
ten Mandanten hängen sehen? Später jedoch, als er seinen Hut
nahm und durch den Temple-Bezirk den Fluss entlang langsam
Richtung Lambeth Bridge ging, wusste er, dass mehr dahinter-
steckte. Etwas an May hatte Rose angezogen, obwohl er sich da-
gegen sträubte; doch was es war, konnte er nicht genau sagen.
Ganz bestimmt nicht Mays Geschichte, obwohl es schien, als sei
der Häftling ehrlich davon überzeugt. Trotz seiner schmutzigen
Kleider, des verfilzten Haars und der Zelle, die kaum größer war
als eine Hundehütte, hatte er etwas Aufrichtiges, etwas Ehrbares
an sich. Als wäre nur sein Körper schmutzig und abstoßend,
seine Seele jedoch vollkommen rein geblieben. Das zeigte nur,
wie sehr man sich täuschen konnte. Er hatte sich von dem vor-
nehmen Gehabe in die Irre führen lassen, denn Häftlinge waren
selten so höflich. Vielleicht hatte er auch die sinnlose Einfalt des
Geisteskranken fälschlich für Rechtschaffenheit gehalten. Rose
seufzte. Wenn er mehr als ein mittelmäßiger Rechtsanwalt wer-
den wollte, musste er die Märchengeschichten seiner Mandan-
ten besser durchschauen.
Auf der Brücke blieb er stehen und blickte hinunter in das
braune Wasser. Auf der Themse tummelten sich Kohlenkutter
und farbenfroh bemalte, mit Stroh beladene Kähne. Sie wirkten
majestätisch wie junge Schwäne neben den mächtigen Dampf-
schiffen, die trotz ihrer Größe miteinander zu wetteifern schie-
nen, wer schneller war. Die Schiffsglocken läuteten, die Schaufel-
räder drehten sich unermüdlich, und aus den Schornsteinen stieg
Rauch auf, als atmeten die Maschinen schwer. Über das Getöse
hinweg trug der starke Westwind die Rufe der Arbeiter und das
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metallische Hämmern von der im Bau befindlichen neuen West-
minsterbrücke herüber. Das Wasser war unruhig, aufgewühlt vom
Wind und von den Schaufelrädern der Dampfer. Dicken Wür-
mern gleich trieben dunkle Wolken über den Himmel. Es würde
regnen, noch ehe die Nacht hereinbrach, doch jetzt warf die rote
Wintersonne ihren Schein auf das Wasser, so dass es funkelte und
blitzte wie ein Schmiedeamboss. Rose hatte sich Mays Auftrag
aufgeschrieben, damit er ihn nicht vergaß, und der Umschlag lag
schwer in seiner Tasche. Am Morgen hatte er den Brief mit der
Post schicken wollen, doch nachdem er das mit dem Bajonett er-
fahren hatte, hatte er es sich anders überlegt. May würde nächste
Woche hängen, und seinen Namen, gleichbedeutend mit Nieder-
tracht und Gemeinheit, würde man sich mit genüsslichem Ab-
scheu in sämtlichen Tavernen, Kaffeehäusern und Wohnzim-
mern Lon o
d ns zuflüstern. Mays Frau hatte Besseres verdient als
einen hastig hingekritzelten Brief.
Die York Street war eine schmale ungepflasterte Straße, dia-
gonal zwischen zwei lärmenden Hauptverkehrsadern verlaufend
und eng bebaut mit Reihenhäusern. Rose kam es vor, als hätte
man die Häuser erst zusammengezimmert und aneinander ge-
klebt, um sie dann hierher zu bringen, wo man dann feststel-
len musste, dass man sich verrechnet hatte und der für sie vor-
gesehene Platz nicht ausreichte. Aber natürlich gab es in der
ganzen Stadt keinen Bauunternehmer, der sich durch eine solch
belanglose Nebensächlichkeit hätte abschrecken lassen, und so
war die Straße einfach schräg zwischen die beiden anderen ge-
setzt worden, so dass sich zu beiden Seiten eine dreieckige
Brachfläche ausbreitete wie ausgefranster Stoff, der unter der
Naht hervorlugt. Die meisten Häuser waren klein, aber ordent-
lich, mit frisch getünchten Mauern und blank geschrubbten
Treppen. Am hinteren Ende der Straße jedoch herrschte rege
Geschäftigkeit. Rufe waren zu hören, Teekisten wurden auf die
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Straße hinausgetragen. Als Rose näher kam, erkannte er, dass die
Tür zu Haus Nummer acht weit offen stand, und zwei Burschen
mit Visagen, bei denen es einen nicht gewundert hätte, sie auf
einer Anklagebank vor Gericht zu
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