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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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dachte vielmehr an May, der ge-
    fesselt in seiner dunklen Zelle kauerte. Dann hatte er es also
    doch getan. May hatte Alfred England ermordet. Rose faltete den
    Brief der Staatsanwaltschaft zusammen und legte ihn zu seinen

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    Unterlagen, überrascht, wie groß seine Enttäuschung war. Wäh-
    rend der Kessel auf dem Herd zu rasseln begann, starrte Rose
    in die Flammen, die Ellbogen auf den Knien, die roten Hände
    gefaltet. Die Enttäuschung ist nur natürlich, sagte er sich, um
    die Fassung wiederzugewinnen. Wer wollte schon seinen ers-
    ten Mandanten hängen sehen? Später jedoch, als er seinen Hut
    nahm und durch den Temple-Bezirk den Fluss entlang langsam
    Richtung Lambeth Bridge ging, wusste er, dass mehr dahinter-
    steckte. Etwas an May hatte Rose angezogen, obwohl er sich da-
    gegen sträubte; doch was es war, konnte er nicht genau sagen.
    Ganz bestimmt nicht Mays Geschichte, obwohl es schien, als sei
    der Häftling ehrlich davon überzeugt. Trotz seiner schmutzigen
    Kleider, des verfilzten Haars und der Zelle, die kaum größer war
    als eine Hundehütte, hatte er etwas Aufrichtiges, etwas Ehrbares
    an sich. Als wäre nur sein Körper schmutzig und abstoßend,
    seine Seele jedoch vollkommen rein geblieben. Das zeigte nur,
    wie sehr man sich täuschen konnte. Er hatte sich von dem vor-
    nehmen Gehabe in die Irre führen lassen, denn Häftlinge waren
    selten so höflich. Vielleicht hatte er auch die sinnlose Einfalt des
    Geisteskranken fälschlich für Rechtschaffenheit gehalten. Rose
    seufzte. Wenn er mehr als ein mittelmäßiger Rechtsanwalt wer-
    den wollte, musste er die Märchengeschichten seiner Mandan-
    ten besser durchschauen.
    Auf der Brücke blieb er stehen und blickte hinunter in das
    braune Wasser. Auf der Themse tummelten sich Kohlenkutter
    und farbenfroh bemalte, mit Stroh beladene Kähne. Sie wirkten
    majestätisch wie junge Schwäne neben den mächtigen Dampf-
    schiffen, die trotz ihrer Größe miteinander zu wetteifern schie-
    nen, wer schneller war. Die Schiffsglocken läuteten, die Schaufel-
    räder drehten sich unermüdlich, und aus den Schornsteinen stieg
    Rauch auf, als atmeten die Maschinen schwer. Über das Getöse
    hinweg trug der starke Westwind die Rufe der Arbeiter und das

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    metallische Hämmern von der im Bau befindlichen neuen West-
    minsterbrücke herüber. Das Wasser war unruhig, aufgewühlt vom
    Wind und von den Schaufelrädern der Dampfer. Dicken Wür-
    mern gleich trieben dunkle Wolken über den Himmel. Es würde
    regnen, noch ehe die Nacht hereinbrach, doch jetzt warf die rote
    Wintersonne ihren Schein auf das Wasser, so dass es funkelte und
    blitzte wie ein Schmiedeamboss. Rose hatte sich Mays Auftrag
    aufgeschrieben, damit er ihn nicht vergaß, und der Umschlag lag
    schwer in seiner Tasche. Am Morgen hatte er den Brief mit der
    Post schicken wollen, doch nachdem er das mit dem Bajonett er-
    fahren hatte, hatte er es sich anders überlegt. May würde nächste
    Woche hängen, und seinen Namen, gleichbedeutend mit Nieder-
    tracht und Gemeinheit, würde man sich mit genüsslichem Ab-
    scheu in sämtlichen Tavernen, Kaffeehäusern und Wohnzim-
    mern Lon o
    d ns zuflüstern. Mays Frau hatte Besseres verdient als
    einen hastig hingekritzelten Brief.
    Die York Street war eine schmale ungepflasterte Straße, dia-
    gonal zwischen zwei lärmenden Hauptverkehrsadern verlaufend
    und eng bebaut mit Reihenhäusern. Rose kam es vor, als hätte
    man die Häuser erst zusammengezimmert und aneinander ge-
    klebt, um sie dann hierher zu bringen, wo man dann feststel-
    len musste, dass man sich verrechnet hatte und der für sie vor-
    gesehene Platz nicht ausreichte. Aber natürlich gab es in der
    ganzen Stadt keinen Bauunternehmer, der sich durch eine solch
    belanglose Nebensächlichkeit hätte abschrecken lassen, und so
    war die Straße einfach schräg zwischen die beiden anderen ge-
    setzt worden, so dass sich zu beiden Seiten eine dreieckige
    Brachfläche ausbreitete wie ausgefranster Stoff, der unter der
    Naht hervorlugt. Die meisten Häuser waren klein, aber ordent-
    lich, mit frisch getünchten Mauern und blank geschrubbten
    Treppen. Am hinteren Ende der Straße jedoch herrschte rege
    Geschäftigkeit. Rufe waren zu hören, Teekisten wurden auf die

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    Straße hinausgetragen. Als Rose näher kam, erkannte er, dass die
    Tür zu Haus Nummer acht weit offen stand, und zwei Burschen
    mit Visagen, bei denen es einen nicht gewundert hätte, sie auf
    einer Anklagebank vor Gericht zu

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