Der Vermesser
Knöchel
wie Backenzähne hervortraten. »Hören Sie, Mr. May. Es ist
meine Aufgabe, Sie zu verteidigen. Ein Freispruch wäre natür-
lich aus meiner wie auch aus Ihrer Sicht das beste Ergebnis. Aber
ich habe noch nie ... die Beweise gegen Sie sind schwerwiegend.
Ausgesprochen schwerwiegend, soweit ich gesehen habe. Trotz-
dem werden wir es versuchen, seien Sie gewiss. Wir werden es
versuchen.«
William starrte in die rot unterlaufenen Augen hinter der Tür
und biss sich auf die Lippen. »Sie sind meine einzige Hoffnung,
Mr. Rose. Man will mich hängen.«
Rose zwang sich, dem Blick des Häftlings standzuhalten. War
es Intelligenz, was diese Löwenaugen erleuchtete und golden
schimmern ließ, oder war es der Wahnsinn? Wie konnte man das
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wissen? »Ich werde tun, was in meiner Macht steht, Mr. May«,
flüsterte er. »Aber dazu brauche ich Ihre volle Unterstützung.
Sie ... sagen wir, es sieht nicht besonders gut aus für Sie. Verste-
hen Sie? Deshalb muss ich alles wissen. Alles. Von Anfang an.«
Und so begann William von Anfang an zu erzählen. Zuerst ka-
men die Sätze langsam und mit langen Pausen, als müsste er sich
jedes Wort einzeln wie einen Felsblock von der Brust wälzen. Er
rieb sich die Handgelenke an den eisernen Fesseln, als wollte er
sie abschütteln.
Rose schmerzten die Knie. Er machte sich Notizen und malte
dabei jeden Buchstaben in kunstvollen Schnörkeln, nicht nur,
um die ausgedehnten Schweigepausen zu füllen, sondern auch,
um sich von dem entsetzlichen Kettengerassel und dem Stöhnen
aus den anderen Zellen abzulenken. Das ging mehrere Stunden
so, und je tiefer die Sonne sank, umso mehr sank sein Mut. »Ich
werde bald gehen müssen, Mr. May.«
William starrte Rose durch den Schlitz an. Er schüttelte den
Kopf, zuerst langsam, dann immer heftiger. Er begann zu zittern,
bis sein ganzer Körper bebte. Sein verwirrter Blick schärfte sich
in heller Verzweiflung, und auf seinen blutleeren Wangen zeich-
neten sich zwei rötliche Flecken ab. »Nein, nein, bitte. Ich ... «
May kämpfte sich hoch und begann auf und ab zu gehen, so-
weit es die enge Zelle erlaubte, zwei kurze Schritte in die eine
Richtung, dann zwei zurück, wieder zwei vorwärts und zwei zu-
rück. Seine Fußeisen klirrten, die Ketten rasselten. Immer noch
schüttelte er den Kopf, den er mit beiden Händen umklam-
merte, als wollte er ihm so die Wahrheit entlocken. Vielleicht ge-
schah das tatsächlich. Denn mit einem Mal und ohne Vorwar-
nung sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus, schneller und
immer schneller, bis sie wie ein Wasserfall von seinen Lippen
flossen und Rose sich gegen diesen Ansturm kaum mehr zu be-
haupten wusste. Draußen senkte sich der abendliche Nebel düs-
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ter herab, bis das verrostete Schiff sich nur mehr als eine große
dunkle Silhouette vor dem pechschwarzen Himmel abzeichnete.
Aber Rose blieb, wo er war, das Gesicht an die Metallklappe ge-
presst, während seine Hand hektisch über das Notizbuch auf sei-
nem Schoß fuhr.
May schien sich kaum bewusst zu sein, was er sagte. Er hielt
den Blick starr auf die abgetretenen Dielen mit den gespensti-
schen Fußabdrücken der zahllosen Gefangenen längst vergange-
ner Zeiten gerichtet und erzählte und erzählte. Von den Schreck-
nissen des Krimkriegs, von den Albträumen, die sie ihm bereitet
hatten, und von seinen Bewusstseinsstörungen. Er erzählte Rose
alles, woran er sich erinnern konnte. Von den Unterredungen
mit Hawke, von seiner Weigerung, Schriftstücke zu unterzeich-
nen, die sein Vorgesetzter ohne legitime Befugnis aufgesetzt
hatte, um England einen lukrativen Auftrag zu verschaffen. Von
Hawkes Versuch, ihn zu bestechen und einzuschüchtern, von
Englands Verzweiflung, von den Drohungen des Ziegeleibesit-
zers und von seiner, Williams, beharrlichen Weigerung, seine
Entscheidung rückgängig zu machen. Er erzählte Rose, dass es
zwischen ihnen tatsächlich zu Handgreiflichkeiten gekommen
sei, dass er England geschlagen habe, danach aber fortgelaufen
sei und, wie so oft, Zuflucht in den Tunneln gesucht habe und
dass er durch die Kälte in einen Fieberzustand geraten sei, von
dem er sich nur langsam erholt habe. Aber trotz seines Fiebers
wusste er und hatte er immer gewusst, dass er in der undurch-
dringlichen Dunkelheit der Kanäle Zeuge eines Mordes gewor-
den war. Das hatte er immer wieder auch seiner Frau beteuert,
die es jedoch als Fieberfantasie abtat. Deshalb war es ihm
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