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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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und blickte sogleich wachsam
    hin und her. Das waren keine Augen, die einem den Tod
    wünschten, dachte Rose, obwohl er wusste, dass der Häftling als
    gewalttätig galt. Eher lag darin die ziemlich aussichtslose Leere
    des hellbraunen Umschlags.
    »Hier bin ich, an der Klappe. Man hat mich leider nicht hinein-
    gelassen, aber ich bin hier, um Sie zu vertreten. Vor Gericht. Syd-
    ney Rose.« Der Anwalt räusperte sich und schluckte nervös.
    »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
    Unbeholfen und unsicher, welches die angemessene Umgangs-
    form in einer so außergewöhnlichen Situation war, streckte Rose
    die Hand, so weit er konnte, durch den Schlitz. Das kalte Metall
    drückte gegen sein knochiges Handgelenk. Rose wartete mit ner-
    vös zuckenden Fingern, aber vergeblich. Auf der anderen Seite
    der Tür schüttelte niemand seine Hand zum Gruß. Vielleicht
    konnte May nicht so weit greifen. Und außerdem, schoss es ihm
    plötzlich durch den Kopf, war der Mann ja ein Häftling, ein Irrer.
    Das Bewusstsein seiner Unvorsichtigkeit durchzuckte ihn wie ein
    stechender Schmerz. Ein Kerl wie der da würde ihm, eh man
    sich̕s versah, einen Finger abbeißen. Hastig zog er die Hand zu-
    rück, doch im letzten Moment streifte ihn die geisterhafte Berüh-
    rung von Mays Fingern.
    »Mr. Rose«, sagte William sehr leise.
    Zögernd rieb sich Rose die aufgekratzten Stellen am Handge-
    lenk. Die Stimme des Wahnsinnigen war mangels Übung unge-
    lenk, aber beherrscht, und verriet Bildung. Weniger die Stimme

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    eines Irren als die eines Büroangestellten. Rose spähte erneut in
    die Zelle, und seine rosa Augen lugten wie durch den eisernen
    Schlitz eines mittelalterlichen Helms hervor. Er gab einen sehr
    ungewöhnlichen Ritter ab.
    »Mr. May«, sagte er, »uns bleiben nur wenige Tage zur Vorbe-
    reitung auf den Prozess. Deshalb sollten Sie mir alles ausführlich
    erzählen.«
    Die Worte waren mit Bedacht gesprochen, und die Stimme
    klang freundlich. William rieb sich die Augen. Er kannte seine
    Rechte. Man musste ihm einen Anwalt stellen, jedoch nicht unbe-
    dingt einen fähigen Anwalt. In den langen, leeren Stunden hatte
    er sich an die Hoffnung geklammert, dass der Mann zumindest
    einen Funken Anstand besaß und kein Trunkenbold war, der wäh-
    rend des Prozesses nicht einmal mehr aufrecht stehen konnte. Die
    Augen dieses Mannes waren rot unterlaufen wie die eines Säufers.
    Aber er hatte seine Hand durch die Klappe gestreckt. Er hatte Wil-
    liams Hand schütteln und ihn berühren wollen. Er hatte mit vor-
    sichtiger Höflichkeit, ja Respekt zu ihm gesprochen wie schon seit
    Wochen niemand mehr. Er hatte wie ein Gentleman gesprochen.
    William spürte Tränen in den Augen und unter seinem Zwerchfell
    ein seltsames Zucken. Ein Aufflackern der Hoffnung.
    William rückte so weit an die Tür heran, wie es die Kette er-
    laubte, und kauerte sich auf den Boden. Die Augen des Anwalts
    waren kaum einen halben Meter weit entfernt. Am liebsten hätte
    William die Hand ausgestreckt und das Gesicht des Mannes be-
    rührt, um für einen Augenblick die Wärme eines menschlichen
    Körpers zu spüren, aber er hielt die Hände unten. Nur nicht die
    Beherrschung verlieren. Erledigt. William befeuchtete die Lip-
    pen mit der Zunge. Er wusste nicht, wie seine Stimme klang. Seit
    Tagen hatte er nicht mehr gesprochen.
    »Ich ... mein Eimer, Mr. Rose.« William schluckte. »Ich hätte
    gern, dass er geleert wird.«

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    »Natürlich.« Rose nickte. »Natürlich. Ich versuche das zu ver-
    anlassen.«
    Wieder eine lange Pause. Rose wartete.
    »Ich i
    b n ni h
    c t verrückt, Mr. Ro e
    s «, flüsterte Will a
    i m schli ß
    e -
    lich. »Und ich habe Alfred England nicht getötet.«
    Die Augen des Anwalts traten aus den Höhlen. »Ja , das ist
    gut«, stammelte er.
    »Ich habe ihn nicht getötet«, wiederholte William, und die
    unvergossenen Tränen drückten gegen seine Wangenknochen.
    »Sie glauben mir doch, oder?«
    Rose blinzelte beklommen, als sich der Häftling ihm entge-
    genbeugte, so weit seine Fesseln es zuließen. Aus der Nähe waren
    seine Augen nicht von dem glanzlosen Braun, wie Rose zuerst
    gedacht hatte, sondern mit grünen und gelben Sprenkeln durch-
    setzt. Er hatte als Vermesser gearbeitet, hatte man ihm gesagt,
    ein Mann mit einer a
    F chausbildung, bevor er den Verstand ver-
    loren hatte. Er hatte eine Familie.
    »Nun ...«, sagte er und stockte. Hinter seinem Rücken ver-
    schränkte er die puterroten Hände ineinander, deren

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