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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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sehen, liefen hin und her und
    balancierten mühsam Kisten und Kästen vor der schmalen Brust.
    Auf dem Gehsteig war bereits ein ganzer Berg von Habseligkei-
    ten aufgetürmt. Auf einem Bugholzstuhl lagen ein abgeschlage-
    ner Waschkrug aus Porzellan ohne die zugehörige Schüssel und
    ein Ziertuch mit dem aufgestickten Spruch Trautes Heim Glück
    allein. Rose blieb stehen und befühlte vorsichtig die Seidensti-
    ckerei.
    »Was zum Teufel tun Sie da?«
    Rose sah schuldbewusst hoch. In der Tür stand eine Frau. Ihr
    ungekämmtes kastanienbraunes Haar umrahmte strähnig das
    Gesicht, und ihre karamellfarbenen Augen waren bläulich um-
    schattet. Vor das unförmige Kleid hatte sie sich eine Schürze ge-
    bunden. Ein kleiner Junge hinter ihr versteckte sich in ihrem
    Rock; seine kleinen Hände kneteten den gemusterten Baum-
    wollstoff.
    »Mrs. May?«
    Die Frau kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Wer sind
    Sie?«
    »Rose. Sydney Rose. Ich vertrete Ihren Mann.«
    Die Frau runzelte die Stirn, legte e ne
    i
    Hand auf den Blond-
    schopf und zog ihn näher zu sich heran.
    »Ich bin sein Anwalt«, fügte Rose hinzu. »Ich war gestern
    bei ihm. Er hat mich gebeten, Ihnen eine Nachricht zu über-
    bringen.«
    Rose kramte in seiner Tasche. Die Frau presste die Lippen zu-
    sammen, als hätte man sie mit einer Schnur zusammengezogen.
    »Eine Nachricht, so. Geld brauchten wir dringender. Das hat er
    wohl nicht geschickt, oder?«

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    »Leider nicht.«
    »Dann gehen Sie«, sagte die Frau schroff, ohne sich auch nur
    einen Schritt zu bewegen, aber Rose spürte, dass sie zitterte.
    »Wie la te
    u tdie Nachricht?«
    »Darf ich reinkommen?«
    »Das ist wohl kaum nötig, den Großteil unserer Einrichtung
    haben wir ja hier draußen«, sagte sie, aber ihre Stimme hatte jetzt
    nichts Schneidendes mehr. Sie trat zur Seite und wies ihm den
    Weg in ein kleines Wohnzimmer. Es gab keine Möbel. Der Boden
    war sauber gewischt, aber an den Wänden hatten Kerzen rußige
    Spuren hinterlassen. Rose stand verlegen in der Mitte des Zim-
    mers, die roten Hände auf dem Rücken verschränkt. Der Junge
    war ihnen gefolgt. Er ließ zwar den Rockzipfel seiner Mutter
    nicht los, versteckte aber das Gesicht nicht mehr. Den Kopf hoch
    erhoben, stand er vor seiner Mutter, als wollte er sie vor Roses
    Worten schützen, wie immer sie lauten mochten, und starrte ihn
    an, ohne zu blinzeln. Er hat die auseinander stehenden karamell-
    braunen Augen seiner Mutter, dachte Rose. Sie muss eine hüb-
    sche Frau gewesen sein, bevor die Umstände sie hatten altern las-
    sen und sie alle Hoffnung verlor. Rose räusperte sich. Die Frau
    hatte erwartungsvoll den Blick auf ihre gefalteten Hände gesenkt
    und biss sich auf die Unterlippe.
    »Ihr Mann hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass er Sie
    liebt«, stieß er ohne Umschweife hervor. »Und er bedauert, Ih-
    nen solche Sorgen gemacht zu haben.«
    »Das ist alles , oder?« Die r
    F au h e
    i lt im e
    m r noch den Blick ge-
    senkt.
    »Nicht ganz. Er sagte, er plane einen wunderschönen Garten
    für Sie. Mit Kreuzblumen, glaube ich, und Bartnelken, aber viel-
    leicht habe ich mich da verhört.« Rose verzog entschuldigend
    das Gesicht. »Von Blumen und Pflanzen habe ich leider keine
    Ahnung.«

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    Die Frau stand einen Augenblick so reglos da, dass Rose be-
    fürchtete, sie hätte das Bewusstsein verloren. Dann schlug sie
    die Hände vor das Gesicht, und ihre Schultern zuckten. Rose trat
    einen Schritt auf sie zu und fasste sie behutsam am Ellbogen.
    »Mrs. May, es tut mir so furchtbar leid ...«
    Er wartete, dass sie sich beruhigte und den Kopf hob, aber sie
    hielt nur stumm die Hände vor das Gesicht gepresst. Der Kleine
    sah aufmerksam zu ihr hoch n
    u d strich ihr durch den abgetra-
    genen Rockstoff übers Bein.
    »Mrs. May, vielleicht sollten Sie sich setzen.« Rose sah sich
    nach einem Stuhl um. »Vielleicht auf die Treppe?«
    Behutsam führte er sie aus dem Zimmer in den schmalen Flur.
    Aus dem hinteren Raum war ein dünner, hoher Schrei wie das
    Wimmern eines Kätzchens zu hören. Der Junge wandte besorgt
    den Kopf, aber seine Mutter zeigte keine Reaktion. Lange saß sie
    auf der Treppe, ohne ein Wort zu sagen. Der Junge legte den Kopf
    in ihren Schoß. Nachdem sie sich schließlich die Augen an* der
    Schürze getrocknet hatte, schickte sie das Kind in die Küche.
    »Sie werden ihn hängen, nicht wahr?«, fragte sie leise, aber
    beinahe gefasst.
    »Ich glaube, ja.« Rose zögerte und wand seine Finger

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