Der Vermesser
hinter
dem Rücken ineinander, dass es schmerzte. »Sie haben die Waffe
gefunden. Versteckt unter seinem Schreibtisch in der Greek
Street.«
»Nein.« Polly schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein, das kann
nicht sein«, sagte sie und runzelte die Stirn.
»Tut mir leid ...«
»Verstehen Sie denn nicht. Es kann nicht sein.«
»Ich weiß, wie schwer es für Sie sein muss, Mrs. May ...«
»Nein!« Pollys Kopf fuhr hoch. »Sie können das Messer un-
möglich gefunden haben. Ich ... ich ... es ist nicht das Messer.
Das kann nicht sein.«
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»Und warum nicht?«
»Weil ich es habe.«
Rose starrte sie an. »Wie bitte?«
»Ich habe es. Williams Messer, das er an jenem Abend bei sich
hatte. Es war in seiner Tasche, als ihn die Polizisten nach Hause
brachten. Ich habe es gefunden. Ich ... ich hatte Angst. Dass sie
wiederkommen. Ich habe es versteckt. Im Mehlkasten. Ich wusste
doch nicht, was ich machen sollte.«
»Und Sie haben es noch?«
»Ja. Danach habe ich alle Messer weggesperrt. Damit ... damit
er sich nichts antut.«
»Könnte ich es bitte sehen?«
Polly nickte. Sie versuchte sich an dem Geländer hochzu-
ziehen, aber plötzlich wich das Blut aus i
hrem Gesicht, und sie
krümmte sich zusammen, die Hand auf ihren Bauch gepresst.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Rose besorgt.
Vorsichtig richtete sich Polly auf. »Kommen Sie«, sagte sie.
Die Küche war noch nicht vollständig ausgeräumt, überall
standen Kisten und Körbe. Der Junge starrte gebannt in einen
der Körbe und stocherte mit dem Finger darin herum. Polly griff
mit beiden Händen in den Mehlkasten, und sofort stieg Staub
auf, der sich auf ihre Arme legte und ihr blasses Gesicht weiß
überzog.
»Hier.«
Sie reichte ihm einen in ein altes Taschentuch eingewickelten
Gegenstand. Mehlstaub rieselte auf seine Schuhe, als er es aufwi-
ckelte. Ein Mes er. M
s
it Mehl bestäubt. Rose wischte es ab.
»Es ist Blut daran, Mrs. May.«
»Er hat sich regelmäßig geschnitten.« Polly sah den Jungen an
und schluckte. Sie sprach so leise, dass man es kaum hörte. »Ich
weiß nicht, warum.«
»Hat er jemals ein Bajonett benutzt?«
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Polly schloss die Augen und suchte Halt an der Stange des Kü-
chenherds.
»Mrs. May, ich muss ...«
»Er kann unmöglich ein Messer in die Greek Street gebracht
haben, Mr. Rose. An jenem Abend kam er aus den Abwasserka-
nälen direkt hierher. Das Messer steckte in seiner Tasche. Da-
nach habe ich alle Messer weggesperrt. Und das Bajonett ...«
Pollys Miene wurde sanft, als sie sich jetzt daran erinnerte. Eine
immer noch hübsche Frau, dachte Rose. Kaum älter als er selbst.
»Wir haben es in den Fluss geworfen. Gemeinsam. Ein paar Mo-
nate nachdem er aus dem Krieg zurückgekommen war. Wir hät-
ten etwas dafür bekommen, wenn wir es verkauft hätten, aber er
sagte, die Vorstellung, dass es auf dem Grund der Themse vor
sich hin rostete, würde ihm helfen, diese schreckliche Zeit hinter
sich zu lassen. Es ging ihm besser, verstehen Sie. Es ging ihm fast
wieder gut.«
Wieder dieser dünne Schrei. Der Junge zog hastig die Hand
aus dem Korb.
»Sie hat Hunger, Mama.«
Polly hob ein Bündel aus dem Korb und fing an, leise zu sum-
men. Wieder ein Schrei. Polly begann ganz sanft ein Wiegenlied
zu singen, das Rose nicht kannte. Jemand zog an seinem Hosen-
bein. Er sah hinunter und blickte in die karamellbraunen Augen
des Jungen.
»Das ist meine kleine Schwester«, sagte das Kind. »Sie heißt
Edith. Sie und i h,
c wir werden bei meinem Onkel Maurice woh-
nen. In Kent. Das ist auf dem Land.«
»Tatsächlich?«
Der Junge nickte.
»Mama kommt nach, sobald sie kann. Dann sind wir alle drei
wieder zusammen. Drei ist eine Glückszahl, sagt Mama.« Er
blickte auf das Baby, stolz und ängstlich zugleich. »Deshalb hat
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das Baby auch drei Namen. Nicht bloß Edith. Edith Elizabeth
Violet.«
Es regnete stark, als Rose die York Street verließ. Die beiden
Burschen luden die letzten Kisten auf den wartenden Karren, aber
der Bugholzstuhl stand immer noch an seinem Platz, und auf dem
abgeschlagenen Schnabel des Waschkrugs hatten sich ein paar Re-
gentropfen gesammelt. Auf dem bestickten Tuch zerlief die Farbe
der Seidenstickerei. Rose schlug den Kragen hoch. Den ganzen
Weg den Fluss entlang, während ihm der Regen ins Gesicht
peitschte, sagte er sich immer und immer wieder, streng und un-
nachgiebig, dass er sich diesmal nicht abwimmeln lassen würde.
Der Polizist
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