Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
der ihm ermun-
    ternd zunickte. Doch plötzlich verstummte der Vorarbeiter.
    Rose wartete, aber d r
    e Mann sagte nichts mehr, sondern fixierte
    nur die Laterne auf seinem Schoß.
    »Er meint, da unten ist etwas versteckt«, sagte Rose schließlich
    sehr leise. »Ein Beweisstück, das ihn entlastet. Wenn man es nur
    finden würde.«
    Der Vorarbeiter blieb stumm.
    »Es wäre schrecklich, wenn sie den Falschen hängen würden«,
    murmelte Rose. Die Worte senkten sich sachte wie Staub herab.
    Ganz langsam begann er seine Sachen zusammenzusuchen,
    setzte sich den Hut auf, zog die Handschuhe an und griff nach
    seinem Regenschirm.

    345
    Der Vorarbeiter nagte an den Lippen, die Laterne vor sich auf
    den Knien.
    »Trotzdem, Vorschrift ist Vorschrift«, murmelte Rose wie zu
    sich selbst. »Vorschrift ist Vorschrift.« Er lüpfte zum Abschied
    den Hut, nahm seine Aktenmappe mit den Dokumenten und
    schritt zur Tür.
    »Ich kenn einen, der könnt̕s machen.« Die Stimme des Vorar-
    beiter klan
    s
    g barsch. »Natürl
    u
    ich n r gegen Bezahlung.«
    »Wo finde ich ihn?«
    Der Vorarbeiter nannte eine Taverne in einer der Straßen
    nördlich des Regent Circus.
    »Fragen Sie einfach. Alle kennen ihn.«
    »Und wie heißt er?«
    Der Vorarbeiter zuckte die Achseln. »Man nennt ihn nur den
    Langarmigen Tom.«

    Am Ende der Gasse in St. Giles blieb der Junge stehen und wies
    mit seiner schmutzigen Hand in eine Richtung. Er könne ihn
    nicht weiter begleiten, aber wenn Rose nach links abböge und
    dann stracks nach rechts, käme er direkt zum East Court. Dann
    verschwand der Junge. Obwohl es noch längst nicht dunkel war,
    herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Rose begegnete kei-
    ner Menschenseele, als er durch die aufgeweichten Straßen stapf-
    te, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Eine so elende Ge-
    gend hatte er noch nie gesehen. Die Gasse war kaum mehr als
    eine Furche zwischen den Häusern, erfüllt vom widerwärtigen
    Geruch nach Schmutz und Exkrementen. Die Häuser waren
    baufällig, die zerbrochenen Fensterscheiben mit Stofffetzen und
    Papier notdürftig geflickt, die zersplitterten Haustüren hingen
    schief in den Angeln. Farblose Lumpen baumelten an Wäsche-
    leinen über seinem Kopf und verdeckten das bisschen Himmel
    zwischen den Häusern. Die Straße war knöcheltief mit Abfall

    346
    und verrottendem Gemüse übersät und voller Pfützen. Mehr als
    einmal stolperte Rose über einen Müllhaufen und musste hus-
    ten, als ein erstickender Geruch daraus hochstieg. In den Abwas-
    serkanälen konnte es nicht schlimmer sein. Die ärmlichen Häu-
    ser schienen sich Bettlern gleich über ihn zu beugen, und ihre
    stinkenden Ausdünstungen brannten ihm heiß im Nacken. Nir-
    gendwo ein Mensch, nur düstere Torwege und niedrige Bogen-
    gänge mit bedrohlich lauernden Schatten. Rose schluckte, den
    Blick starr geradeaus gerichtet, trotzdem sah er links und rechts
    Augen aufblitzen, ein Messer oder eine Würgschraube blinken.
    Er beschleunigte seinen Schritt. Ihm war übel, und sein Speichel
    schmeckte bitter. Reiner Wahnsinn, sich allein und schutzlos
    hierher zu wagen. Das hatte ihm auch der Wirt des Black Badger
    zu verstehen gegeben, als er ihm seinen Gehilfen als Begleiter an-
    bot. Er wolle nicht, dass er sein Ziel verfehle, hatte er gesagt und
    dabei den Kopf geschüttelt, während er Roses gebügelten Anzug
    und seine glänzenden, wenn auch schmutzverkrusteten Leder-
    schuhe musterte. Er hoffe, Tom stecke nicht in der Klemme,
    hatte er gesagt und Rose dabei neugierig angesehen. Als Rose
    ihm seine Karte überreichte, fuhr er sich mit der Zunge über den
    breiten Mund, als wollte er sich die Reste der Bratensoße vom
    Mittagessen ablecken. Ein Anwalt sei er also. Sehr interessant. Er,
    der Wirt, sei noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Und
    er gebe gewiss kein Geheimnis preis, wenn er ihm sage, dass Tom
    im East Court zu finden sei, linker Hand, wenn man vor dem
    Eingang stand, im zweiten Stock.
    Der Eingang zum Hof war nur ein Spalt zwischen zwei
    Häusern, die sich bedrohlich aneinander lehnten, mit Mauern
    schwarz von Ruß und Verfall. Nicht breiter als ein Wäsche-
    schrank, und wenn Rose die Arme ausbreitete, konnte er die
    beiden Türen rechts und links gleichzeitig berühren. Der Ein-
    gang ähnelte mehr einem schmalen Felsspalt als dem Zugang

    347
    zu menschlichen Behausungen. Der Gestank nach Kanalisation
    und Körperausdünstungen raubte ihm den Atem. Rose hatte
    den unbändigen Wunsch

Weitere Kostenlose Bücher