Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
aber der Schmerz, den es verursachte, beruhigte
    ihn.
    Er hatte Rose gebeten, am nächsten Tag wiederzukommen.
    Den ganzen Vormittag wartete er, breitete seine Erinnerungen
    vor sich aus und besah sie sich ganz genau – so wie in den Tagen
    nach dem Mord, als er alles in sein Notizheft geschrieben hatte.
    Diesmal hatte er kein Papier und keine Tinte, aber als er sein Ge-
    dächtnis durchstöberte, mit aufmerksam geneigtem Kopf, legte
    er für jeden Geräuschfetzen, den er erinnerte, einen Strohhalm
    neben sich auf den Boden. Als die Bilder aus dem Krimkrieg
    übermächtig zu werden drohten und er das dumpfe Geräusch
    eines ins Fleisch eindringenden Messers zu hören meinte,
    wischte er sie beiseite. Er musste sich einzig und allein auf jenen
    Abend konzentrieren. Irgendetwas musste er vergessen haben.
    Etwas, das in diesen Geräuschhülsen, dem Scharren und Plat-
    schen, dem Glucksen und Stöhnen verborgen lag. Etwas, an das
    er anknüpfen konnte.
    Ein paar Stunden nachdem die Hand des Wärters seinen
    Blechnapf herausgezogen hatte, hörte William Schritte draußen
    im Flur. Sie waren leichter als die der Gefängniswärter und eiliger.
    William spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Einen
    Augenblick später ging die eiserne Klappe auf. Es war Rose.
    Diesmal verschwendete der Anwalt keine Zeit mit Höflichkeiten.
    »Ich glaube, wir haben da etwas«, stieß er hervor. »Es reicht
    zwar noch nicht aus, aber es ist besser als gar nichts. Es könnte
    Ihren Hawke belasten.«

    337
    William schrie unwillkürlich auf. Er starrte dem Mann hinter
    der Klappe in die Augen und meinte für einen kurzen Moment,
    das Herz würde ihm zerspringen und seinen Brustkorb mit war-
    mem, klebrigem Blut überfluten. Ihm war so schwindelig, dass
    er glaubte, das Bewusstsein zu verlieren.
    »Ich ...«, stammelte er.
    »Der Vertrag, von dem Sie gesprochen haben – ich hab ihn ge-
    funden.«
    Es hatte bis vier Uhr in der Nacht gedauert. In den kalten, stil-
    len Stunden nach Mitternacht hatte sich Rose systematisch
    durch die Schriftstücke in der Kiste gearbeitet, die er vom Poli-
    zeirevier mit nach Hause genommen hatte. Ein Großteil der
    Dokumente bestand aus den üblichen Geschäftspapieren einer
    Ziegelei, und Rose wurde ganz wirr im Kopf vor lauter Zahlen-
    reihen: Tunneldurchbruch 6 s. 6 d. pro Kubikmeter; Portlandze-
    ment 13 s. pro Kubikmeter; Backsteine £ 14 pro Rute; Mauerzie-
    gel 35 s. pro tausend Stück; Tagelöhner 3 s. 6 d. Wenn irgendwo
    in dieser Berechnung ein Geheimnis lag, so blieb es Rose ver-
    borgen. Erst ganz unten in der Kiste war er auf die Verträge ge-
    stoßen. Es war ein dicker Stapel, mit einer Schnur zusammen-
    gebunden, der in einem lederbraunen Umschlag steckte. Die
    meisten Verträge lauteten auf unbedeutende Beträge, betrafen
    Vereinbarungen mit Bauspekulanten und den einen oder ande-
    ren kleinen Auftrag von einer Kirchengemeinde. Die meisten
    waren mehr als ein Jahr alt. Nur einer datierte vom Dezember
    1859 – der Vertrag über eine Backsteinlieferung an die Baube-
    hörde durch den Vertragsnehmer Alfred England von der Firma
    England & Son in Battersea. Versehen mit Hawkes Unterschrift,
    dicht gedrängten schwarzen Krakeln, und mit Englands Unter-
    schrift, breiten, weit ausschwingenden, kindlich anmutenden
    Buchstaben. Da, wo May hätte unterschreiben sollen, war nur
    ein Kreuz mit Bleistift, so fest aufgedrückt, dass die Mine das Pa-

    338
    pier durchstoßen hatte. Rose hatte das Blatt so lange angestarrt,
    um ihm sein Geheimnis zu entlocken, bis die Worte ihren Sinn
    verloren.
    »Mr. Rose, o mein Gott ...«
    »Ich habe auch Ihr Messer«, fuhr Rose fort. »Man kann mit
    Fug und Recht davon ausgehen, dass die Waffe, die man in Ih-
    rem Büro gefunden hat, dort versteckt wurde, um Sie zu belas-
    ten. Aber das ist nur ein Indiz. Vor Gericht kommen wir damit
    nicht durch. Wir brauchen mehr. Einen Beweis, dass unser
    Mann zur Tatzeit in den Abwasserkanälen war. Etwas Hand-
    festes.«
    Ganz langsam hob William die Hände ans Gesicht und ver-
    harrte so mehrere Minuten. Dann hob er den Kopf. Seine Augen
    glänzten, ob vor H f
    o fnung oder von Tränen, konnte Rose nicht
    sagen.
    »Sie glauben mir, dass ich ihn nicht getötet habe«, flüsterte
    William.
    Es war keine Frage, und Rose gab keine Antwort. »Wir haben
    nicht genügend in der Hand, um die Geschworenen zu überzeu-
    gen«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie Ihre ganze Geschichte noch
    einmal durchdenken. Jede

Weitere Kostenlose Bücher