Der Vermesser
aber der Schmerz, den es verursachte, beruhigte
ihn.
Er hatte Rose gebeten, am nächsten Tag wiederzukommen.
Den ganzen Vormittag wartete er, breitete seine Erinnerungen
vor sich aus und besah sie sich ganz genau – so wie in den Tagen
nach dem Mord, als er alles in sein Notizheft geschrieben hatte.
Diesmal hatte er kein Papier und keine Tinte, aber als er sein Ge-
dächtnis durchstöberte, mit aufmerksam geneigtem Kopf, legte
er für jeden Geräuschfetzen, den er erinnerte, einen Strohhalm
neben sich auf den Boden. Als die Bilder aus dem Krimkrieg
übermächtig zu werden drohten und er das dumpfe Geräusch
eines ins Fleisch eindringenden Messers zu hören meinte,
wischte er sie beiseite. Er musste sich einzig und allein auf jenen
Abend konzentrieren. Irgendetwas musste er vergessen haben.
Etwas, das in diesen Geräuschhülsen, dem Scharren und Plat-
schen, dem Glucksen und Stöhnen verborgen lag. Etwas, an das
er anknüpfen konnte.
Ein paar Stunden nachdem die Hand des Wärters seinen
Blechnapf herausgezogen hatte, hörte William Schritte draußen
im Flur. Sie waren leichter als die der Gefängniswärter und eiliger.
William spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Einen
Augenblick später ging die eiserne Klappe auf. Es war Rose.
Diesmal verschwendete der Anwalt keine Zeit mit Höflichkeiten.
»Ich glaube, wir haben da etwas«, stieß er hervor. »Es reicht
zwar noch nicht aus, aber es ist besser als gar nichts. Es könnte
Ihren Hawke belasten.«
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William schrie unwillkürlich auf. Er starrte dem Mann hinter
der Klappe in die Augen und meinte für einen kurzen Moment,
das Herz würde ihm zerspringen und seinen Brustkorb mit war-
mem, klebrigem Blut überfluten. Ihm war so schwindelig, dass
er glaubte, das Bewusstsein zu verlieren.
»Ich ...«, stammelte er.
»Der Vertrag, von dem Sie gesprochen haben – ich hab ihn ge-
funden.«
Es hatte bis vier Uhr in der Nacht gedauert. In den kalten, stil-
len Stunden nach Mitternacht hatte sich Rose systematisch
durch die Schriftstücke in der Kiste gearbeitet, die er vom Poli-
zeirevier mit nach Hause genommen hatte. Ein Großteil der
Dokumente bestand aus den üblichen Geschäftspapieren einer
Ziegelei, und Rose wurde ganz wirr im Kopf vor lauter Zahlen-
reihen: Tunneldurchbruch 6 s. 6 d. pro Kubikmeter; Portlandze-
ment 13 s. pro Kubikmeter; Backsteine £ 14 pro Rute; Mauerzie-
gel 35 s. pro tausend Stück; Tagelöhner 3 s. 6 d. Wenn irgendwo
in dieser Berechnung ein Geheimnis lag, so blieb es Rose ver-
borgen. Erst ganz unten in der Kiste war er auf die Verträge ge-
stoßen. Es war ein dicker Stapel, mit einer Schnur zusammen-
gebunden, der in einem lederbraunen Umschlag steckte. Die
meisten Verträge lauteten auf unbedeutende Beträge, betrafen
Vereinbarungen mit Bauspekulanten und den einen oder ande-
ren kleinen Auftrag von einer Kirchengemeinde. Die meisten
waren mehr als ein Jahr alt. Nur einer datierte vom Dezember
1859 – der Vertrag über eine Backsteinlieferung an die Baube-
hörde durch den Vertragsnehmer Alfred England von der Firma
England & Son in Battersea. Versehen mit Hawkes Unterschrift,
dicht gedrängten schwarzen Krakeln, und mit Englands Unter-
schrift, breiten, weit ausschwingenden, kindlich anmutenden
Buchstaben. Da, wo May hätte unterschreiben sollen, war nur
ein Kreuz mit Bleistift, so fest aufgedrückt, dass die Mine das Pa-
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pier durchstoßen hatte. Rose hatte das Blatt so lange angestarrt,
um ihm sein Geheimnis zu entlocken, bis die Worte ihren Sinn
verloren.
»Mr. Rose, o mein Gott ...«
»Ich habe auch Ihr Messer«, fuhr Rose fort. »Man kann mit
Fug und Recht davon ausgehen, dass die Waffe, die man in Ih-
rem Büro gefunden hat, dort versteckt wurde, um Sie zu belas-
ten. Aber das ist nur ein Indiz. Vor Gericht kommen wir damit
nicht durch. Wir brauchen mehr. Einen Beweis, dass unser
Mann zur Tatzeit in den Abwasserkanälen war. Etwas Hand-
festes.«
Ganz langsam hob William die Hände ans Gesicht und ver-
harrte so mehrere Minuten. Dann hob er den Kopf. Seine Augen
glänzten, ob vor H f
o fnung oder von Tränen, konnte Rose nicht
sagen.
»Sie glauben mir, dass ich ihn nicht getötet habe«, flüsterte
William.
Es war keine Frage, und Rose gab keine Antwort. »Wir haben
nicht genügend in der Hand, um die Geschworenen zu überzeu-
gen«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie Ihre ganze Geschichte noch
einmal durchdenken. Jede
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