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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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dieses Viertel wagen? Manch einer, der hier rumspa-
    zierte, ist nie wieder rausgekommen. Ein Mann von Ihrem Beruf
    sollte es eigentlich besser wissen. Trotzdem, für mich ist es ein
    Glücksfall, könnte man sagen. Sie sind als
    o Anwalt?
    e
    W r hätte
    das gedacht?«
    Tom lächelte in sich hinein und entblößte dabei seine schwar-
    zen Zahnstummel. Das Weiße in seinen Augen glänzte in der
    hereinbrechenden Dämmerung.
    In den Schatten ringsum lauerte Gefahr. Rose schluckte den
    bitteren Speichel hinunter. »Danke.« Seine Stimme klang schrill,
    als er eine halbe Krone aus der Tasche zog. Er könnte sich um-
    drehen und losrennen, ging es ihm durch den Kopf, aber es war
    inzwischen so dunkel, dass die Gassen sich wie Schorf auf einer

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    Wunde geschlossen halten. Er saß in der Falle. Vor Angst war
    ihm ganz schwindelig. »Sie haben mir sehr geholfen. Wenn Sie
    mich jetzt vorbeilassen ...«
    Der alte Mann wich keinen Schritt zur Seite. Er spuckte auf
    die Münze und rieb sie dann kräftig an seinem zerschlissenen
    Jackenärmel ab. Zufrieden ließ er sie in seine Tasche gleiten.
    »Ich dachte, Sie wollten zu Tom?«
    »Ich ...«
    »Sonst hätten Sie die halbe Krone doch umsonst hergegeben.«
    Es war dieses Augenzwinkern, das Rose beruhigte. Jemand
    konnte einem doch nicht so fröhlich zuzwinkern und im nächs-
    ten Moment den Hals umdrehen. Das jedenfalls war die Erklä-
    rung, die Rose später fand. In dem Moment aber war er schier
    besinnungslos vor Angst, als er Tom durch ein Gewirr von Gas-
    sen auf eine breitere Straße folgte, wo die rote rußende Flamme
    einer alten Talglampe eine schäbige Pension erleuchtete. Auf
    einer Decke vor dem Haus, in Schmutz und Lumpen gehüllt,
    kauerte eine Familie um eine Ansammlung staubiger Flaschen
    und Eisenketten. Eltern und Kinder starrten Rose mit trübem
    Blick an, als er über sie hinwegstieg. Eines der jüngeren Kinder
    wimmerte und streckte die Hand nach Roses Mantelsaum aus,
    zog aber den Kopf ein, als Tom knurrte und ausholte, als wollte
    er ihm mit seiner gebogenen Stiefelspitze einen Fußtritt verpas-
    sen. Nach ein paar Schritten duckte sich Tom unter einen nied-
    rigen Eingang, dessen schwere Holztür von einem Lederriemen
    offen gehalten wurde. Nach kurzem Zögern folgte ihm Rose. Die
    Taverne war düster und still, und auf dem mit Sägemehl bestreu-
    ten Boden standen nur wenige einfache Tische und Bänke. Über
    die Decke zog sich ein Netz aus graugrünem Schimmel. Tom
    schwang ein Bein über einen niedrigen Schemel in einer Ecke
    und machte eine Geste zu Rose, sich ebenfalls zu setzen. Aber
    Rose blieb stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

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    »Ich nehme an, wir werden Tom hier treffen«, sagte er grim-
    mig.
    »Richtig.«
    Rose sah sich um. In der Taverne saßen nur ein paar Männer,
    die meisten allein. Sie hatten aufgeblickt, als er eingetreten war,
    wie Kühe, die einen Fremden auf einer Wiese anglotzen, aber
    jetzt senkten sie den Kopf erneut über ihr Glas und tranken,
    während sie in dumpfer Starre vor sich hin brüteten.
    »Also. Wer von denen ist es?«
    »Er sitzt vor Ihnen.«
    »Aber ...«
    »Man kann nie vorsichtig genug sein.«
    Rose stutzte. Er hatte keine Ahnung, ob der alte Mann die
    Wahrheit sagte. Aber vielleicht spielte das gar keine Rolle. Das
    Einzige, was zählte, war, dass er in die Tunnel gelangte. Eine Frau
    mit einem kantigen, geröteten Gesicht und einer schmuddeligen
    Schürze brachte Krüge mit Porterbier. Tom nickte Rose zu, der
    ein paar Münzen in die ausgestreckte Hand der Frau fallen ließ.
    »Nun gut«, meinte Rose zögerlich.
    »Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen«, erwiderte Tom.
    »Mag sein.«
    »Also, was wollen Sie?«
    Rose beschränkte sich auf die allernotwendigsten Erklärun-
    gen. Ein Mord war geschehen. Tom hatte wahrscheinlich davon
    gehört. Ein Gentleman, ermordet in den Abwasserkanälen. Tom
    zuckte die Achseln, aber in seinem Kopf schrillten sämtliche
    Alarmglocken. Als Rose mit seiner Geschichte fertig war, hatte
    Tom regelrecht Magenkrämpfe. Der Anwalt hatte den Captain
    mit keinem Wort erwähnt. Doch es gab eine Chance, dass der
    Captain nicht ungeschoren davonkam, und zwar wenn der Ver-
    rückte freigesprochen wurde. Die Vorstellung, den Captain in
    Schwierigkeiten zu bringen, war so verlockend wie der Geruch

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    von Roastbeef. Aber ihm waren die Hände gebunden. Der An-
    walt ier,
    h
    der wusste, wie er, Tom, aussah und wo er wohnte –
    das war zu gefährlich. Viel zu

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