Der Vermesser
dieses Viertel wagen? Manch einer, der hier rumspa-
zierte, ist nie wieder rausgekommen. Ein Mann von Ihrem Beruf
sollte es eigentlich besser wissen. Trotzdem, für mich ist es ein
Glücksfall, könnte man sagen. Sie sind als
o Anwalt?
e
W r hätte
das gedacht?«
Tom lächelte in sich hinein und entblößte dabei seine schwar-
zen Zahnstummel. Das Weiße in seinen Augen glänzte in der
hereinbrechenden Dämmerung.
In den Schatten ringsum lauerte Gefahr. Rose schluckte den
bitteren Speichel hinunter. »Danke.« Seine Stimme klang schrill,
als er eine halbe Krone aus der Tasche zog. Er könnte sich um-
drehen und losrennen, ging es ihm durch den Kopf, aber es war
inzwischen so dunkel, dass die Gassen sich wie Schorf auf einer
350
Wunde geschlossen halten. Er saß in der Falle. Vor Angst war
ihm ganz schwindelig. »Sie haben mir sehr geholfen. Wenn Sie
mich jetzt vorbeilassen ...«
Der alte Mann wich keinen Schritt zur Seite. Er spuckte auf
die Münze und rieb sie dann kräftig an seinem zerschlissenen
Jackenärmel ab. Zufrieden ließ er sie in seine Tasche gleiten.
»Ich dachte, Sie wollten zu Tom?«
»Ich ...«
»Sonst hätten Sie die halbe Krone doch umsonst hergegeben.«
Es war dieses Augenzwinkern, das Rose beruhigte. Jemand
konnte einem doch nicht so fröhlich zuzwinkern und im nächs-
ten Moment den Hals umdrehen. Das jedenfalls war die Erklä-
rung, die Rose später fand. In dem Moment aber war er schier
besinnungslos vor Angst, als er Tom durch ein Gewirr von Gas-
sen auf eine breitere Straße folgte, wo die rote rußende Flamme
einer alten Talglampe eine schäbige Pension erleuchtete. Auf
einer Decke vor dem Haus, in Schmutz und Lumpen gehüllt,
kauerte eine Familie um eine Ansammlung staubiger Flaschen
und Eisenketten. Eltern und Kinder starrten Rose mit trübem
Blick an, als er über sie hinwegstieg. Eines der jüngeren Kinder
wimmerte und streckte die Hand nach Roses Mantelsaum aus,
zog aber den Kopf ein, als Tom knurrte und ausholte, als wollte
er ihm mit seiner gebogenen Stiefelspitze einen Fußtritt verpas-
sen. Nach ein paar Schritten duckte sich Tom unter einen nied-
rigen Eingang, dessen schwere Holztür von einem Lederriemen
offen gehalten wurde. Nach kurzem Zögern folgte ihm Rose. Die
Taverne war düster und still, und auf dem mit Sägemehl bestreu-
ten Boden standen nur wenige einfache Tische und Bänke. Über
die Decke zog sich ein Netz aus graugrünem Schimmel. Tom
schwang ein Bein über einen niedrigen Schemel in einer Ecke
und machte eine Geste zu Rose, sich ebenfalls zu setzen. Aber
Rose blieb stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
351
»Ich nehme an, wir werden Tom hier treffen«, sagte er grim-
mig.
»Richtig.«
Rose sah sich um. In der Taverne saßen nur ein paar Männer,
die meisten allein. Sie hatten aufgeblickt, als er eingetreten war,
wie Kühe, die einen Fremden auf einer Wiese anglotzen, aber
jetzt senkten sie den Kopf erneut über ihr Glas und tranken,
während sie in dumpfer Starre vor sich hin brüteten.
»Also. Wer von denen ist es?«
»Er sitzt vor Ihnen.«
»Aber ...«
»Man kann nie vorsichtig genug sein.«
Rose stutzte. Er hatte keine Ahnung, ob der alte Mann die
Wahrheit sagte. Aber vielleicht spielte das gar keine Rolle. Das
Einzige, was zählte, war, dass er in die Tunnel gelangte. Eine Frau
mit einem kantigen, geröteten Gesicht und einer schmuddeligen
Schürze brachte Krüge mit Porterbier. Tom nickte Rose zu, der
ein paar Münzen in die ausgestreckte Hand der Frau fallen ließ.
»Nun gut«, meinte Rose zögerlich.
»Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen«, erwiderte Tom.
»Mag sein.«
»Also, was wollen Sie?«
Rose beschränkte sich auf die allernotwendigsten Erklärun-
gen. Ein Mord war geschehen. Tom hatte wahrscheinlich davon
gehört. Ein Gentleman, ermordet in den Abwasserkanälen. Tom
zuckte die Achseln, aber in seinem Kopf schrillten sämtliche
Alarmglocken. Als Rose mit seiner Geschichte fertig war, hatte
Tom regelrecht Magenkrämpfe. Der Anwalt hatte den Captain
mit keinem Wort erwähnt. Doch es gab eine Chance, dass der
Captain nicht ungeschoren davonkam, und zwar wenn der Ver-
rückte freigesprochen wurde. Die Vorstellung, den Captain in
Schwierigkeiten zu bringen, war so verlockend wie der Geruch
352
von Roastbeef. Aber ihm waren die Hände gebunden. Der An-
walt ier,
h
der wusste, wie er, Tom, aussah und wo er wohnte –
das war zu gefährlich. Viel zu
Weitere Kostenlose Bücher