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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Einzelheit.«
    Wieder schlug William die Hände vors Gesicht. Seine rissigen
    Lippen berührten die Handflächen, und er spürte seinen heißen
    Atem zwischen den Fingern. Das in seiner Brust rauschende Blut
    kühlte sich ab und floss wieder in ruhigen Bahnen. Er brauchte
    keine Angst zu haben. Die Narbenwülste auf seinen Unterarmen
    brannten. Es galt, die Fassung zurückzugewinnen. Er biss sich
    auf die Lippen, drückte die scharfen Kanten seiner Schneide-
    zähne mit solcher Gewalt in das spröde Fleisch, dass es blutete.
    Er leckte die Lippen ab und kostete den vertrauten metallischen
    Geschmack auf der Zungenspitze. Auch seine Zunge würde blu-
    ten, wenn er nur fest genug daraufbiss. Das war nicht notwen-

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    dig, noch nicht. Aber der Gedanke beruhigte ihn. Das Dröhnen
    in seinen Ohren verklang. Behutsam nahm er die Strohhalme,
    die er auf den Boden gelegt hatte, und während er sie in Stücke
    riss, als könnte er ihnen damit ihr Geheimnis entlocken, zwang
    er sich, sich zu erinnern.
    Als er mit seinem Bericht fertig war, blickte er hoch. Die Augen
    hinter der Eisenklappe wandten sich ab.
    »Das reicht nicht, oder.«
    Auch das war keine Frage.
    »Mit einer Verteidigung vor Gericht verhält es sich genauso
    wie mit Ihren Abwasserkanälen«, sagte Rose leise. »Gut konstru-
    iert, kann sie jedem Angriff widerstehen, wie unangenehm er
    auch immer ist. Wenn aber ein Backstein verwittert, nicht stark
    genug gebrannt oder falsch eingepasst ist, besteht die Gefahr,
    dass alles in sich z
    r
    usammenstü zt. Und enn
    w
    Sie nicht genügend
    Backsteine haben ...«
    Backsteine. Das Schaben von Backstein auf Backstein. Es hatte
    etwas zu bedeuten, dieses Geräusch. Es hatte eine Gestalt und
    war ihm so vertraut wie das Klirren von Metall und das Geräusch
    tropfenden Wassers in seiner Kindheit, das den Waschtag ankün-
    digte. Noch lange nachdem seine Mutter gestorben war, dachte
    er, sobald er das Geräusch einer Mangel hörte, es wäre Montag.
    Genauso weckte dieses Geräusch bestimmte Gerüche und Ge-
    fühle in ihm. William schloss die Augen. Das Schaben von Back-
    stein auf Backstein. Das Gewicht des Messers in seiner Hand.
    Der Geschmack von Blut in seinem Mund. Ein kalter, feuchter
    Geruch in seiner Nase. Dunkelheit. Ein Zustechen. Ein weißes
    Gesicht, Augen wie dunkle Höhlen. Nein, nein, nicht das. Die
    Tunnel. Die Dunkelheit in den Tunneln. Das herrliche Pochen
    des schmerzenden Arms. Scharfe Umrisse, fest und kühl die
    Hände, das Gesicht und das Herz, absolute Gegenwart. Klar-
    heit. Frieden. William stieß einen Schrei aus, keuchend vor

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    plötzlichem brennendem Verlangen. Verzweifelt versuchte er,
    diese Gefühle zu umklammern und festzuhalten, aber sie waren
    bereits verschwunden, Schatten, die sich im Licht auflösten. Er
    tastete mit den Zähnen die wunden St

    ellen auf seinen Lippen ab
    und schmeckte das warme Blut.
    »Mr. May?«, fragte Rose besorgt durch den Schlitz. »Fühlen
    Sie sich nicht gut? Möchten Sie einen Schluck Wasser?«
    William schlug die Augen auf. »Er hat etwas versteckt«, sagte
    er. »Er hat etwas versteckt.«
    »Wer? Hawke?«
    »Ja. Er hat etwas versteckt. In der Mauer.«
    »Tatsächlich? Und was?«
    »Ich weiß nicht. Aber ich weiß, dass er es getan hat. Ich ...
    ich habe auch immer Dinge versteckt. Die Backsteine waren
    morsch. Man konnte sie leicht herausziehen. Dort unten konnte
    man etwas verstecken und sicher sein, dass niemand es je finden
    würde.«
    »Dann meinen Sie also ...«
    »Er hat dort unten etwas versteckt. Etwas Wichtiges vielleicht.
    Etwas, das niemand entdecken sollte.«
    »Die Waffe?«
    »Vielleicht.«
    »Dokumente?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Aber irgendetwas?«
    »Ja, irgendetwas.«
    »Und Sie sind sicher?«
    »Ganz sicher.«
    Rose hatte das Gesicht so fest an die Eisentür gepresst, dass
    ihm die Nase wehtat.
    »Und Sie können mir sagen, wo?«
    William nickte. »Die Vorarbeiter, sie kennen die Tunnel . ..«

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    »Und die würden mich hinführen?«
    »Vielleicht. Wenn Sie dafür bezahlen.«
    »Bezahlen. Ja.«
    Es war nur ein Hoffnungsschimmer. Aber der Prozess war für
    folgenden Montag angesetzt, und er hatte nur noch ein paar
    Tage Zeit. Und mit dem Wenigen, was er hatte, konnte er Hawke
    nicht entgegentreten. Aber wenn da unten tatsächlich etwas war,
    würde das alles ändern. Es reichte vielleicht nicht aus, Hawke des
    Mordes zu beschuldigen, aber darauf kam es gar nicht an. Es
    ging darum, die Beweismittel der Anklage so sehr in Zweifel

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