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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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auf dem schmalen Tisch ausbreitete. Es war un-
    verkennbar Englands Handschrift: das dicke runde »o«, die kur-
    zen Unter- und Oberlängen bei den Buchstaben »b« und »d«, die
    kindlich ausladende Unterschrift. Diesen Brief hatte England
    geschrieben, ganz zweifellos. Noch bemerkenswerter war das
    Datum: 16. Dezember 1858. Der letzte Tag, an dem England le-
    bend gesehen worden war. Rose drehte das Blatt um und unter-
    suchte es genauer. Diese braunen Streifen. War es möglich ...
    konnte es sein, dass es Englands Blut war?
    Der Fremde roch nach schmutziger Wäsche und Rauch von
    Holzfeuer. Er verzog keine Miene, als Rose den Brief noch ein
    letztes Mal las. Dann nahm er ihn wieder an sich und steckte ihn
    in die speckigen Falten seiner Jacke. Rose konnte es kaum ertra-
    gen, den Brief verschwinden zu sehen. Es war ihm ein Rätsel, wie
    Tom an dieses Schriftstück gekommen war – gewiss auf unrecht-
    mäßige Weise. Vielleicht hatte er die Leiche ausgeraubt. Viel-
    leicht war er ein Komplize. Das spielte keine Rolle. Selbst wenn
    er den alten Mann wie durch ein Wunder überreden könnte, vor

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    Gericht auszusagen – er konnte unmöglich einen Kanaljäger in
    den Zeugenstand rufen. Nein, Tom war unwichtig. Was zählte,
    war der Brief. Mit ihm hatte Rose endlich etwas in der Hand.
    Wenn er ihn nur an sich nehmen könnte.
    »Sie haben also Interesse«, sagte der Fremde und schob schar-
    rend seinen Stuhl zurück. »Ich seh̕s an Ihrem Gesicht.«
    Erst jetzt bemerkte Rose, wie groß der Mann war. Sein Kopf
    streifte die niedrige Decke und hinterließ einen Rußfleck auf
    dem feuchten Verputz. Rose biss i
    s ch auf die Lippen und nickte.
    »Und was verlangt Tom dafür?«
    Joe zuckte die Achseln. »Tom? Glaub nicht, dass ich einen
    Tom kenne.«
    Rose holte tief Luft. »Natürlich nicht. Tom hat nichts damit zu
    tun.« Rose zögerte nur kurz. Er hatte nichts zu verlieren. »Sagen
    Sie ihm, er soll morgen um sieben hierher kommen. Ich werde
    den Hund mitbringen.«

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XXXI

    Endlich zog die Morgendämmerung herauf und vertrieb ge-
    mächlich die Dunkelheit über der Stadt. Sobald es einigermaßen
    hell war, übergab Rose dem Pförtner ein Schreiben, das unver-
    züglich weitergeleitet werden sollte, wie er betonte. Er hatte nicht
    geschlafen. Seine Augen brannten, und er hatte einen säuerlichen
    Geschmack im Mund, trotzdem spürte er eine unbändige Ener-
    gie. Es würde ein paar Stunden dauern, ehe er mit einer Antwort
    rechnen konnte. Die Zeit bis dahin musste er sinnvoll nutzen,
    sagte er sich entschlossen, indem er an seiner Beweisführung
    feilte und seine Unterlagen in Ordnung brachte. Doch stattdessen
    schritt er in seinem beengten Zimmer auf und ab, die Zehen in
    den Stiefeln verkrampft, die Arme auf dem Rücken verschränkt,
    und rang die von der winterlichen Kälte rissigen Hände. Das Pol-
    tern von Stiefeln auf den nackten Dielen draußen auf der Treppe
    ließ das Glas in dem abblätternden Fensterrahmen klirren. Er ver-
    suchte, Feuer zu machen, um sich Tee zu kochen, aber die Späne
    waren feucht und schimmelig und wollten nicht brennen. Der
    Qualm biss ihm in die Augen. Sobald er eine Antwort hatte,
    würde er im Kaffeehaus frühstücken. Ungeduldig spähte er nach
    draußen. Im kümmerlichen Gras vor seinem Fenster pickten ein
    paar Amseln trostlos im Dreck herum, ohne die Schar der An-
    wälte zu beachten, die in ihren schwarzen Roben an ihnen vorbei-
    hasteten. Er kaute an den Fingernägeln. Bestimmt würde er bald
    etwas hören. Es war Donnerstag. Die Verhandlung war für Mon-
    tag angesetzt. Es war durchaus noch möglich, eine Verschiebung
    zu erreichen. Nach der frühmorgendlichen Betriebsamkeit war

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    die Pension jetzt verwaist. In der Stille tickte die Uhr auf dem Ka-
    minsims gleichmäßig vor sich hin; ihre rastlosen Zeiger spran-
    gen von Minute zu Minute. Rose dachte an William May, der auf
    dem schmutzigen Stroh seiner Gefängniszelle in Ketten lag, und
    an den gesichtslosen Hawke, der frei herumlief. Er sank auf einen
    Stuhl und ließ die Arme zwischen den Knien baumeln. Dann
    stand er auf, lief erneut auf und ab und sah zwischendurch im-
    mer wieder auf den Weg vor seinem Fenster hinaus, die Hände
    auf dem Rücken verschränkt. Er wartete.
    Der Bote kam kurz nach zehn. Mr. Bazalgettes Sekretär bestä-
    tigte den Erhalt von Mr. Roses Bitte, teilte ihm jedoch bedauernd
    mit, Mr. Bazalgette habe aufgrund seiner zahlreichen Verpflich-
    tungen erst im Februar Zeit, mit ihm zu

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