Der Vermesser
Blick und den abgebrochenen Zähnen flößte
ihm alles andere als Vertrauen ein. Hawke hatte den Vertrag
nicht mit seinem eigenen Namen unterzeichnet. Rose hätte
die Ähnlichkeit der beiden Handschriften zwar nachweisen
und vielleicht sogar die Geschworenen davon überzeugen kön-
nen, dass Hawke einen unrechtmäßigen Vertrag abgeschlos-
sen hatte, aber was war damit gewonnen? Es bewies höchstens,
dass sich Hawke in den zwielichtigen Randbezirken der Stadt
herumtrieb. Das vertrug sich zwar nicht besonders gut mit sei-
ner Stellung in der Baubehörde, war an sich aber nicht verbo-
ten. Hier endete die Spur. Und noch immer hatte Rose nichts in
der Hand, was Hawke des Mordes an Alfred England über-
führte.
Rose hatte im Dunkeln dagesessen und über den wenigen
Fakten gebrütet, über die er verfügte, bis sie wie Worte, die
man zu oft gelesen hatte, schal und bedeutungslos geworden
waren. Kurz vor Mitternacht, als sein kleines Feuer bereits erlo-
schen war, fiel er in einen unruhigen Schlaf. Das Trommeln
des Jungen an der Tür schlich sich als beängstigendes Geräusch
in seine düsteren Träume von den Elendsquartieren, so dass
er erschrocken hochfuhr und ihm das Herz bis zum Hals
schlug. Auch jetzt, im dicken Mief des Kaffeehauses, raste sein
Puls noch, und er schwitzte unter seinem schweren Mantel. Er
konnte seine Aufregung kaum bezwingen, als er den Brief noch
einmal las:
Lieber Mr. Bazalgette,
ich habe die unangenehme Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu
setzen, dass Mr. Charles Hawke, der gegenwärtig in der Greek
Street in Ihren Diensten steht, vor Ihren Augen Kontrakte für
Bauaufträge Ihrer Behörde an den Meistbietenden verkauft.
Da Sie, Mr. Bazalgette, ein Mann von Ehre sind, wird diese
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Entdeckung Sie zweifellos bestürzen, doch obschon Mr. Hawke
behauptet, seine harten Vertragsbedingungen seien zum Nutzen
der Baubehörde, zieht er fleißig eigenen Gewinn daraus. Ich bin
mir sicher, dass er inzwischen ein reicher Mann ist. Und all das
geschieht in der denkbar hinterhältigsten Art und Weise.
Woher ich das weiß? Mr. Hawke kam erstmals am 4. September 1858 auf mich zu. Für die Summe von einhundert Guineen, zahlbar in bar, so versprach er, wolle er unsere Firma für einen
Auftrag mit einem garantierten Mindestvolumen von fünftausend Pfund empfehlen. Bei Vertragsunterzeichnung würde Mr. Hawke zehn Prozent der Vertragssumme erhalten, mindestens jedoch eintausend Pfund. Es ist nicht nötig, Ihnen in allen Einzelheiten darzulegen, in welchen finanziellen Schwierigkeiten sich die Firma England seit einigen Jahren befindet, auch wenn behauptet wird, die Branche erlebe einen Aufschwung. Es
mag genügen, wenn ich Ihnen versichere, dass wir die Unrechtmäßigkeit von Mr. Hawkes Angebot zwar durchaus erkannt haben, uns aber keine andere Wahl blieb, ab es anzunehmen.
Dennoch kam kein Vertrag zustande. Nun ist es zu spät, sich
nach neuen Aufträgen umzusehen. Die Bank hat das Darlehen
gekündigt, die Ziegelei muss verkauft werden. Es ist vorbei Doch
bevor ich die Firma England für immer schließe, ist es mir ein
Bedürfnis, reinen Tisch zu machen. Ich schäme mich für dieses
schmutzige Geschäft. Aus Verzweiflung suchte ich Zuflucht in
verzweifelten Maßnahmen. Ich bin mir bewusst, dass ich mich
mit diesem Bekenntnis der ganzen Strenge des Gesetzes überantworte. Doch das spielt nun keine Rolle mehr. Ich vermag nicht tatenlos zuzusehen, wie sich Mr. Hawke auf betrügerische Weise
ein Vermögen aneignet. Wenn Sie der Sache nachgehen, werden
Sie mindestens auf drei weitere Firmen stoßen, die Verträge mit
Ihrer Behörde von Mr. Hawke »gekauft« haben. Hawke ist ein
gewissenloser Betrüger, der seine privilegierte Stellung skru
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pellos ausnutzt, um in die eigene Tasche zu wirtschaften. Wenn
dieser Brief dazu beiträgt, ihn der Gerechtigkeit zu überantworten, hat es sich gelohnt, ihn zu schreiben, ganz gleich, welche Unannehmlichkeiten ich mir damit auflade.
Ich verbleibe Ihr ergebenster Diener
Alfred England
Dann hatte William May also die Wahrheit gesagt. Hawke hatte
Bestechungsgelder entgegengenommen. Und wenn er gewusst
hatte, dass England ihn verraten würde, hatte er zweifellos sei-
nen Tod gewollt. Rose verspürte Erleichterung. Erleichterung
und neue, belebende Hoffnung, doch das vorherrschende Ge-
fühl war Erstaunen. Er kaute nervös am Daumennagel, als er die
Dokumente herausholte, die er vom Polizeirevier mitgenom-
men hatte, und
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