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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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ganze Anlage erinnerte ihn an
    eine gewaltige Guillotine über einem offenen Grab. In der ver-
    gangenen Nacht hatte er geträumt, er hätte, noch lebendig, aber

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    unfähig, zu sprechen oder sich zu bewegen, mit lähmendem
    Schrecken zusehen müssen, wie ein Totengräber seinen reglosen
    Körper in ein Leichentuch wickelte. Als er aufwachte, hatte sich
    ihm das Bettlaken wie eine Zwangsjacke um die Beine geschlun-
    gen. Wo er auch hinsah, so schien es, war er von Vorahnungen
    des Todes umgeben. Er seufzte schwer und rieb sich die Unter-
    arme. Die Häuser ringsum sanken müde auf ihre dicken hölzer-
    nen Stützbalken, als fehlte ihnen die Kraft, sich aufrecht zu hal-
    ten. Die eiskalte Luft roch nach Erde.
    Rose hatte Harker erwartet, aber der Vorarbeiter, der jetzt vor
    ihm stand, war ein drahtiger Kerl mit einer wettergegerbten
    Haut von der Farbe rotbrauner Dachziegel. Sie seien zu zehnt,
    erklärte er Rose, und arbeiteten über die ganze Stadt verteilt.
    Selbstverständlich werde er sein Möglichstes tun, um ihm zu
    helfen, aber da der Pegel am Steigen war, könnten sie erst am fol-
    genden Tag in den Untergrund. Mit dem Parlament könne man
    debattieren, wenn man Lust dazu hatte, aber nicht mit der Flut.
    Rose biss sich auf die Lippen, seine Verzagtheit wuchs. Sonntag-
    mittag würde ihm kaum genügend Zeit bleiben, sich auf die Ge-
    richtsverhandlung vorzubereiten. Es schien, als würde er nie
    in die Tunnel kommen, egal, was er tat. Und wenn es ihm wie
    durch ein Wunder doch noch gelänge, würde er nichts finden.
    Sein ganzes Bemühen war zum Scheitern verurteilt, aber diese
    plötzliche Erkenntnis bestärkte ihn nur in seinem Entschluss. Es
    gebe doch zweimal am Tag Ebbe, entgegnete er unnachgiebig
    dem Vorarbeiter. Also könnten sie noch am selben Abend hi-
    nuntersteigen. Schließlich gehe es um ein Menschenleben. Er
    zog den Fetzen Papier aus seiner Hosentasche, auf den May seine
    Skizze gekritzelt hatte, und reichte sie dem Vorarbeiter, der zu
    zögern schien. Er schob den Lederhut in den Nacken und kratzte
    sich an der Stirn. Rose verschränkte die Arme, das Kinn vor-
    geschoben, trotzig und mit der Halsstarrigkeit dessen, der alle

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    Hoffnung verloren hat. Der Vorarbeiter holte tief Luft, die hohle
    Hand vor dem Mund, als nähme er einen Zug aus einer Ziga-
    rette. Sein Nicken war kaum mehr als ein Kopfrucken. Aufgrund
    der Unannehmlichkeiten wäre natürlich eine zusätzliche Ent-
    lohnung der Ausspüler fällig, zahlbar vor Eintreffen der Polizei-
    beamten, aber es wäre machbar. Elf Uhr. Regent̕s Circus. Wenn
    er sich verspätete, würden sie nicht warten.

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XXXIV

    A lso.« Tom schob die Hände in die geräumigen Taschen sei-
    ner Segeltuchjacke. Ein magerer Hund, unter dessen dünnem,
    grauem Fell sich die Rippen abzeichneten, beschnupperte den
    Aschehaufen. Als er jedoch vor Toms Stiefel zurückzuckte, sah
    er ihr weißes Gesicht, das sich ihm entgegenhob, und es war
    ihre Schnauze, die seinen Handteller suchte. Die Leere in ihm
    schmerzte wie Hunger. Heute Abend. Vielleicht war es heute
    Abend endlich so weit. Tom wusste nicht, ob er es bis dahin aus-
    hielt. Die Holzplanke nter
    u
    seinen Füßen wippte leicht. »Ich hab
    erfahren, dass heute Abend der Captain hier erwartet wird.«
    »Mmm. So heißt es.«
    »Komisch, dass er sich hertraut. Bei den Schulden.«
    »Er will den Hund antreten lassen. Wer kann̕s ihm verden-
    ken? Wenn er gewinnt, wird er mich bezahlen.«
    »Na prima.«
    Brassey zog eine Augenbraue hoch.
    »Schade, dass ich nicht kommen kann«, fuhr Tom fort.
    »Nicht?« Brasseys Krötenaugen verengt n
    e
    sich. »Wirklich
    schade.«
    »Schätze ja, der Captain wird enttäuscht und verärgert sein,
    wenn ich nicht komme.«
    Brassey leckte sich nervös die Lippen. »Was redest du da? Der
    Captain wird sich wohl kaum hier blicken lassen, wenn er weiß,
    dass du da bist. Nicht unter den gegebenen Umständen. Er will,
    dass du Lokalverbot bekommst.«
    »Ach! Das heißt also: Wir gegen ihn? Wie schön.«

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    Brassey fuhr ein wenig zusammen und wippte auf den Zehen-
    spitzen. »Wir einfachen Leute müssen zusammenhalten, nicht
    wahr, Tom? Ich sag dir was. Um die Sache wieder gutzumachen,
    bestelle ich bei dir auch wieder Ratten. Einen Penny pro Paar.
    Was sagst du dazu?«
    »Da setzen wir doch gleich ̕nen schriftlichen Vertrag auf. Hab
    irgendwie Geschmack gefunden an Schriftstücken mit all diesen
    komischen Stempeln und Unterschriften und dem ganzen Drum
    und Dran.

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