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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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das Gleich-
    gewicht, und sie musste sich an den Gitterstäben festhalten. Trotz
    des Taschentuchs drang ihr der bestialische Gestank, der hier im
    Gefängnis herrschte, in die Nase. Neben seinem Holzteller hatte
    ein Eimer ohne Deckel gestanden, in dem seine Exkremente
    schwammen. Er hatte sich auf die andere Seite gedreht, mit ras-
    selnden Ketten an den Füßen – als wäre er einer jener schmutz-

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    3
    starrenden Bären, die im Zoo gehalten wurden. Er hatte sie an-
    gesehen, als wollte er sie verschlingen.
    »Ein langer Weg«, meinte der Wärter kopfschüttelnd. »Für
    nichts und wieder nichts. Die meisten Angehörigen wollen sich
    wenigstens verabschieden.«
    Polly schwieg lange. Als sie schließlich den Mund aufmachte,
    musste der Wärter die Ohren spitzen, um es zu hören.
    »Das habe ich soeben getan«, sagte sie.

    392

XXXVI

    D er Vorarbeiter stieg als Erster hinunter, die Laterne hoch über
    den Kopf haltend, damit Rose und die beiden Wachtmeister die
    Eisensprossen in der Wand, die als Leiter dienten, nicht verfehl-
    ten. Seine Eidechsenaugen funkelten trüb im Schein der Laterne,
    als er Rose das Zeichen gab, dass es losging. Vorsichtig setzte
    Rose den Fuß auf die erste Sprosse. Der Gestank, der von un-
    ten heraufdrang, war schon jetzt unerträglich, und er wurde mit
    jeder Sprosse stärker, so dass Rose würgte und sich sein Mund
    mit saurem Speichel füllte. Er hielt sich die Nase zu und atmete
    angeekelt nur durch den Mund. Er bildete sich ein, den bestia-
    lischen Gestank menschlicher Exkremente auf der Zunge zu
    schmecken. Dann stieg er in den Abwasserstrom. Das dunkle
    Wasser reichte ihm bis zu den Knien, und unsägliche braune
    Klumpen umspülten seine Stiefel, bevor sie mit der Strömung
    weitergetrieben wurden. Mit einer Bewegung des Daumens be-
    deutete ihm der Vorarbeiter, in südliche Richtung weiterzuge-
    hen, bevor er dem ersten der beiden Polizisten zurief, er solle he-
    runterkommen. Das Licht von Roses Laterne beleuchtete nur
    einen kleinen Ausschnitt der vor ihm liegenden erstickenden
    Dunkelheit, aber er sah das morsche Backsteingemäuer, das von
    einer giftigen Schmiere überzogen war. Neben ihm in der Tun-
    nelbiegung, wo ein Stück Wand hervorsprang, hatte sich der
    faulige Unrat zu einem weichen, hoch aufgetürmten Haufen ab-
    gelagert. Aus der Tunneldecke sprossen bleiche Pilze hervor, für
    die die widerwärtige Fäulnis einen fruchtbaren Nährboden zu
    bilden schien. Rose schloss die Augen, die Hände zu Fäusten ge-

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    ballt. An seinen Stiefelsohlen saugte sich dicker schmatzender
    Schlamm fest. Er geriet ins Wanken. Bei dem Gedanken, der
    Länge nach in den stinkenden Strom zu fallen, blieb ihm fast das
    Herz stehen. Er öffnete die Augen und senkte die Laterne, um in
    die undurchdringliche Dunkelheit zu leuchten. In ihrem Licht-
    kreis wirkte das Wasser wie aufgewirbelter Schlamm. Eine tote
    Ratte trieb an ihm vorbei, das Fell seidig glänzend am schmalen
    Körper, die haarlosen Füße in gekrümmter Erstarrung. Rose
    würgte. Er konnte sich keine irdische Strafe vorstellen, die einen
    auf das Grauen der Abwasserk ä
    an le Londons v
    i
    orbere tete, es sei
    denn, man durchwatete den Hadesstrom.
    Mit einem dumpfen Platscher landete der zweite Polizist im
    Wasser. Der Vorarbeiter murmelte etwas, während er sich, die La-
    terne vor sich ausgestreckt, an Rose vorbeidrängte, um die Grup-
    pe anzuführen. Rose duckte sich, um nicht aus Versehen an das
    heimtückische Mauerwerk zu stoßen. Im Wasser treibende Stein-
    brocken streiften seine Stiefel, doch er wagte nicht, den Blick
    nach unten zu richten. Die beiden Wachtmeister hinter ihm hus-
    teten und würgten in der Dunkelheit; Rose hörte ihre flachen
    Atemzüge. Mehrmals bedeutete der Vorarbeiter Rose zu warten,
    damit die beiden Polizisten nicht zu weit zurückblieben. Roses
    Schätzung nach waren sie etwa einen halben Kilometer gegangen,
    als der Vorarbeiter seine Laterne von dem Stecken herunternahm
    und sie sich über den Kopf hielt.
    »Hier ist es«, sag e
    t er knapp. Die Augen in seinem ausdrucks-
    losen Gesicht funkelten im Licht der Laterne.
    Rose blickte sich um. Der Tunnel erstreckte sich tief ins Dun-
    kel, aber dort, wo er eine Biegung machte, war eine Einbuch-
    tung, ursprünglich vielleicht ein Regenkanal. Dieser Abschnitt
    des Kanals blieb von der Flut unberührt, doch die Wände waren
    überall von stinkenden Ablagerungen überzogen, die sich in den
    Ecken zu widerlichen Haufen türmten. Die

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