Der Vermesser
Captain, er ist im
Bilde. Er weiß, dass ich ihm auf der Spur bin. Dass wir schrift-
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liche Beweise haben. Und er weiß auch, dass ich mit Ihnen ge-
sprochen habe. Es ist zu spät. Es gibt kein Zurück mehr. Aber
wenn ich den Brief habe, besteht eine Chance. Dann kriegen wir
ihn. Ich weiß, dass wir ihn kriegen können. Wenn ich den Brief
habe, kann ich die Sache mit der Baubehörde weiter voranbrin-
gen. Zumindest können wir ihn wegen Bestechlichkeit kriegen.
Er wird ins Gefängnis wandern. Der Mann hat Sie betrogen,
Tom. Sie wollen doch bestimmt auch, dass er ins Gefängnis
kommt. Und wenn Sie mich in die Abwasserkanäle führen, wenn
wir den Beweis finden, den mein Mandant dort vermutet, viel-
leicht .«
Tom hob abwehrend die Hände. Er musste Zeit gewinnen.
Ihm schwirrte der Kopf. »Dieser Brief ... schadet der dem Cap-
tain?«
»Ob er ihm schadet? Er beweist, dass Hawke Bestechungsgel-
der für den Abschluss von Bauaufträgen angenommen hat. Der
Mann, der den r
B ief e
g
e
schri ben hat, ist o
t t. erst
V
ehen Sie denn
nicht? Schlimmer könnte es für Hawke gar nicht sein.«
Tom verstand, und sein Herz hüpfte vor Freude. Das also
stand in dem Brief. Und der Captain wusste Bescheid. Kein
Wunder, dass Brassey so viel daran lag, dass Tom von dem
Kampf erfuhr. An Orten wie dem Badger geschahen Dinge, die
für immer verborgen blieben. Aber jede Medaille hatte eine
Kehrseite. Der Captain konnte ihm zwar allerlei Fallen stellen,
aber Tom war im Besitz des Briefes. Ein solcher Brief war min-
destens so viel wert wie ein Hund.
»Ich würd Ihnen ja gern helfen«, sagte Tom mit ausdruckslo-
ser Miene. »Gefängnis ist viel zu harmlos für einen Halunken
wie ihn. Aber ich glaube, Sie verwechseln mich. Ich weiß nichts
von einem Brief. Und ich glaube, ich habe Ihnen schon gesagt,
dass ich nicht mehr in die Abwasserkanäle gehe. Es ist gesetzlich
verboten.«
375
Rose starrte Tom an, der sei e
n zer u
l mpte Jacke fester um sich
schlang. »Aber ...«
»Ich hoffe, Sie finden den Kerl, der Ihren Brief hat. Gute
Nacht, ist
M er.«
»Nein!«
Rose versuchte, Tom am Ärmel festzuhalten, aber der Kanal-
jäger war schneller. Als Rose die Tür des Kaffeehauses erreicht
hatte, war der alte Mann schon verschwunden.
376
XXXIII
I m fahlen Licht der Gaslaternen wirkte die Strand gespenstisch
düster und wie in fieberhafter Hektik. Die Schaufenster lockten
mit tausend grellen Farben, und in die Theater, deren golden-
scharlachrote Pforten weit offen standen, strömten Scharen von
Menschen. Der Verkehr stockte. Kutschen drängten sich dicht an
dicht; Pferde, eingespannt in ihr klapperndes Geschirr, huschten
vorüber, den Kopf umhüllt von schimmernd weißen Atemwol-
ken. Droschkenkutscher brüllten einander an. Es war ein wah-
res Spektakel aus Freundlichkeiten und Rüpeleien. Straßenmäd-
chen zupften Rose am Ärmel und bettelten um ein Glas Gin oder
etwas Geld für die Miete. Neben ihm trieb ein Omnibuskutscher
seine beiden Pferde an, während der Schaffner wie wild auf das
hellgrün gestrichene Dach trommelte. Rose duckte sich noch
tiefer in seinen Mantelkragen, den Blick auf seine Stiefel gerich-
tet, während der bunte Trubel um ihn herum ihn peinigte und
ihm sein Elend erst so recht bewusst machte. In der King James’
Lane hätte ihn eine Gruppe feiner Herrschaften in eleganter
Abendgarder b
o e fast über den Haufen gerannt. Ihr r d
ü es, spöt-
tisches Gelächter gellte ihm noch immer in den Ohren.
Das kleine Fenster des Pförtnerhäuschens wurde vom be-
haglichen Lichtschein eines Kohlenbeckens erleuchtet, doch die
Pension war dunkel, und ihre rußgeschwärzte Fassade wirkte
auch jetzt finster und abweisend. Rose zögerte. Das Herz in sei-
ner Brust war hart wie Stein. Im Gasthof Abbey Dining Rooms
würde es warm sein. Samstags gab es dort gekochtes Hammel-
fleisch und Biskuitkuchen mit Marmelade. Seit dem Frühstück
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hatte er nichts mehr gegessen, und wenn er zu lange nichts im
Magen hatte, bekam er rasende Kopfschmerzen. Es war also rat-
sam, etwas zu sich zu nehmen. Doch stattdessen ging Rose hi-
nunter zum Fluss und folgte ihm in östlicher Richtung. An der
Waterloobrücke entrichtete er dem bis über beide Ohren einge-
mummelten Zöllner in seinem Häuschen einen halben Penny.
Er wollte immer weitergehen, bis die Stadt und dieser jämmer-
liche, erfolglose Tag mit seiner rußigen Kälte hinter ihm lag. Den
Brief hatte
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